Malheur auf Mallorca

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Terzett mit Rupert Charlesworth (Celidoro, mi.), Maria Ladurner (Ruspolina, li.) und Benedetta Mazzucato (Cetronella). Foto: Stefan Gloede

Es gehört nicht viel dazu, ein Publikum mit Rossini oder Mozart anzulocken. Hoch anzurechnen ist es deshalb Dorothee Oberlinger, der Leiterin der Musikfestspiele Potsdam, dass sie einen anderen Weg geht: Unbekannte oder längst vergessene, nur bruchstückhaft überlieferte Stücke, die zur Zeit Friedrichs II. in der Region Berlin und Brandenburg aufgeführt wurden, der Vergangenheit zu entreißen und spielbare Fassungen herzustellen. Dieses Jahr also „I portentosi effeti della Madre Natura“ („Die wundersamen Wirkungen von Mutter Natur“) von Giuseppe Scarlatti.

Alle Figuren besitzen sprechende Namen

Da geht’s schon los: Wer? Die Musikerfamilie Scarlatti war ähnlich weit verzweigt wie die Bachs, Giuseppe behauptete, ein Enkel des großen Allessandro zu sein, doch dies gilt als nicht gesichert. „I portentosi“ wurde in Venedig uraufgeführt, auf ein Libretto von Carlo Goldoni, und war 1764 in Berlin zu sehen, 1768 dann auch im frisch erbauten Schlosstheater im Neuen Palais von Sanssouci. Just da sitzen wir jetzt und werden Zeuge, wie Protagonist Celidoro („der goldene Himmel“) seine ersten Schritte in die Welt macht. Er besitzt, wie alle in diesem Stück, einen sprechenden Namen, denn eigentlich ist er König von Mallorca – okay, das klingt jetzt wie ein grottenschlechter Faschingsscherz, aber so war das im Barock üblich: Indem die Schauplätze an weit entfernte, märchenhafte Orte verlegt werden, kann die feudale Gegenwart aufgespießt werden, ohne Zensur zu befürchten.

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Celidoro also war seit seiner Kindheit auf grausame Weise eingekerkert, ist jetzt dem Gefängnis entflohen und lernt quasi alles, ähnlich seinem Geistesvetter Kaspar Hauser, zum ersten Mal kennen. Und das heißt vor allem: die Liebe. Auch wenn das Programmheft nahelegt, die titelgebende „Natur“ als Aufkommen eines neuen Wissenschaftszeitalters oder im Sinne eines politischen Freiheitsdrangs zu interpretieren, so steht sie doch in dieser Inszenierung vor allem für: den Trieb. Die Frauen verdrehen Celidoro den Kopf, er will sie alle haben, geht das denn nicht? Von emotionaler Intelligenz, Mäßigung, Intimsphäre weiß er (noch) nichts. Er ist gerade erwacht, und zweifellos steckt ihn Ausstatter David Faivre auch deshalb die ganze Zeit in einen Pyjama. Rupert Charlesworth vom Ensemble der Staatsoper Hannover singt Celidoro als so ein großes Kind, das erst noch lernen muss, König zu sein – vielleicht war es auch das, was Friedrich an dem Stoff gereizt hat. Aber ob der Monarch diese Oper je gesehen hat, wissen wir nicht.

Kaffeemaschinen und Schlagbohrer

Eigentlich hat Goldoni das Stück in einer Schäferidylle angesiedelt. Das war Regisseur Emmanuel Mouret, dessen Film „Chronique d’une liaison passagère“ dieses Jahr in Cannes lief und der hier sein Operndebüt gibt, dann doch zu weit weg. Indem er alle Figuren zu Angestellten in einem autoritär geführten Büro macht, führt er sie näher an heutige Lebenswelten heran. Allerdings hält sich der Erkenntnisgewinn trotzdem in Grenzen. Dafür darf man sich an hässlichen Serienstühlen, Kaffeemaschinen, Styroporbechern, Schlagbohrer und einem sehr dominanten Staubsauger erfreuen. Am längsten grübelt man noch über der Frage, warum Mouret sich, die rentnerbeigen Telefone zeigen es deutlich, nicht für ein durchdigitalisiertes Büro von 2022, sondern für eines aus den 1980ern entschieden hat. Weil ein bisschen historische Distanzierung dann doch sein soll?

[ Wieder am 14., 15. und 16. Juni, Schlosstheater Sanssouci im Neuen Palais, www.musikfestspiele-potsdam.de]

Erwähnten Staubsauger nutzt Putzkraft Cetronella (Benedetta Mazzucato) zur Selbstverteidigung, am Ende liegt sie natürlich doch in Celidoros Armen, und Hausmeisterin Ruspolina („der kleine Rechen“, Maria Ladurner) hat das Nachsehen. Als Gattin von Bösewicht Ruggiero (Countertenor Filipo Mineccia) ragt Roberta Mameli aus dem Ensemble heraus, wegen ihrer passgenau gemeißelten Koloraturen, wegen der Mächtigkeit und zugleich dem funkelnden Feinschliff ihres pointierten Soprans, mit dem sie auch an der Berliner Staatsoper zu hören war.

Im Graben bringen Oberlinger und ihr Ensemble 1700 Scarlattis mitreißende Musik zum Klingen, auch wenn sie das Volumen etwas zartfühlender differenzieren könnten. Die Musikwissenschaftler Francesco Russo und Giovanni Benvenuti haben aus den in Wien und Wolfenbüttel lagernden Manuskripten diese Fassung erstellt, mit interessanten Soli für Oboe oder Fagott. Spät, weit in der zweiten Hälfte, entdeckt auch das Potsdamer Publikum, dass es nicht verboten ist, der tollen Leistung der Sängerinnen und Sänger Zwischenapplaus zu spenden.