Sexueller Missbrauch im Sport: „Er schuf Rankings, wer den schönsten Busen oder Po hatte“

Simon, so steht es in dem am Dienstag veröffentlichten Bericht, war ein schüchterner Junge, mehr als das, ein bisschen ängstlich war er mit 12, 13 Jahren. Ein Schulfreund nahm ihn mit zum Rudern. Der Trainer des Ruderklubs suchte und fand schnell seine Zuneigung. Simon war erleichtert, dass sich jemand um ihn kümmerte. Sein Trainer, der noch keine dreißig Jahre alt war, nahm ihn häufiger auf den Schoß. Simon dachte sich zunächst nichts dabei.

Als Simon aber 14 Jahre alt war, teilte er sich auf einer Wanderfahrt ein Zelt mit seinem Trainer. In der Nacht wachte er auf, sein Trainer lag „mit seinem Riesenkörper“ auf ihm und nahm sexuelle Handlungen vor. Außerdem zwang er Simon, sexuelle Handlungen an ihm vorzunehmen. Auch danach kam es zu weiteren Übergriffen. Lange Zeit verdrängte Simon, was geschehen war. „Aber irgendwann wurde ich sehr krank und begab mich in eine Therapie.“

Oder Tina. Im Alter von elf Jahren ging sie in einen Turnverein. Ihr Trainer, neun Jahre älter als sie, war sehr engagiert im Verein, sehr beliebt, alle himmelten ihn an, wie Tina berichtet. Er wusste viel über die Mädchen und deren Familien. Er war nicht nur der strenge Trainer, sondern wie ein Freund. „Es gingen damals schon Gerüchte um, dass er ein ’Kinderficker’ sei – so nannten es die Leute zumindest“, wird Tina in dem Bericht zitiert.

Tina hatte mit 14 Jahren ihr erstes Mal Sex mit ihm

Er schaffte es, sexualisierte Verhaltensweisen in der Gruppe zu implementieren. „Er schuf Rankings unter den Mädchen, wer den schönsten Po oder den schönsten Busen hatte, und kommunizierte dies öffentlich.“ Die Mädchen duldeten die Übergriffe und später die konkreten sexuellen Handlungen, die der Trainer an ihnen vornahm. Es entstand ein Konkurrenzverhältnis unter den Mädchen, jede wollte dem Trainer am nächsten sein.

Tina hatte mit 14 Jahren ihr erstes Mal Sex mit ihm. Der Trainer vermittelte ihr und den anderen Betroffenen, dass das doch alles völlig normal sei. Die Eltern der Mädchen seien mit ihren Vorstellungen von Sexualität aus dem Mittelalter, trichterte er Tina und ihren Trainingspartnerinnen ein. Jahre später sagte sie mit anderen Betroffenen gegen den Trainer aus. Es gab elf betroffene Mädchen, die in über 80 Fällen missbraucht worden waren. Der Trainer wurde zu einer Gefängnisstrafe ohne Bewährung verurteilt, Tina bekam 1500 Euro Schmerzensgeld. Sie bezeichnet sich selbst als starke und selbstbewusste Frau. Aber die alte Geschichte hat sie nicht vergessen. Sie hat Flashbacks, Panikattacken und leidet unter Körperempfindungsstörungen.

Die Berichte sind erschütternd, sie brechen die positive Erzählung vom Sport

Bettina Rulofs, Sportwissenschaftlerin und Autorin der Studie 

Traumatische Erfahrungen wie diese haben etliche vor allem junge Frauen im Sport in Deutschland gemacht. Die Täter: meist Trainer, meist Männer. Die Gelegenheit: meist im organisierten Sport. Die große Tragik besteht darin, dass die Dunkelziffer immens ist, die allermeisten Fälle nicht bekannt geworden sind und es vermutlich auch in den nächsten Jahren nicht werden. Sexueller Missbrauch ist ein Tabuthema, in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch im Sport.

Deshalb hat die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs im Mai 2019 Betroffene und Zeuginnen und Zeugen dazu aufgerufen. von ihren Erfahrungen zu berichten. Am Dienstag stellte die Kommission die rund 170 Seiten lange Studie vor. „Die Berichte sind erschütternd, sie brechen die positive Erzählung vom Sport“, sagte die Autorin der Studie, Bettina Rulofs von der Deutschen Sporthochschule Köln. Kommissionsmitglied Heiner Keupp sprach von einer dunklen Seite des Sports und zitierte in diesem Zusammenhang den Philosophen Theodor Adorno: Es müsse eine schmerzliche Last erst anerkannt werden.

Bettina Rulofs (m.) ist die leitende Autorin der Studie.
Bettina Rulofs (m.) ist die leitende Autorin der Studie.
© dpa

Die Anerkennung dieser Last fällt den Betroffenen unendlich schwer. Besonders deshalb – und dies ist ein zentrales Ergebnis des Berichts –, weil es ihnen nicht leicht gemacht wird, sich zu öffnen. „Es gibt in den Vereinen kaum eine Kultur des Zuhörens“, sagte Keupp, „Betroffene stoßen häufig nicht auf Gehör im Verein.“ Schlimmer noch: Ihnen werde oft mit Verleumdungsklagen gedroht, wie Rulofs ergänzte.

Der Sport steht wegen seines laxen Umgangs mit dem Thema seit Jahren am Pranger. Der Vorwurf: Die Organisationen des Sports ducken sich weg und wollen kaum finanzielle Ressourcen für die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in ihren Vereinen lockermachen. Beim Aufbau eines unabhängigen Zentrums für sicheren und gewaltfreien Sport, dem sogenannten Zentrum für Safe Sport, will sich der Deutsche Olympische Sportbund laut den Mitgliedern der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs finanziell nicht beteiligen. SPD-Politikerin Angela Marquardt, selbst Betroffene, schimpfte am Dienstag über die Haltung der Sportverbände. „Das darf man ihnen nicht durchgehen lassen“, sagte sie. „So ganz nach dem Motto: Wasch’ mein Pelz, aber mach’ mich nicht nass.“

Gerade einmal 114 Personen, die sexuelle Gewalt im Sport erlebt haben, brachten in den vergangenen drei Jahren den Mut auf und meldeten sich bei der Kommission. Bei rund 27 Millionen Mitgliedern in etwa 88.000 Sportvereinen ist dies eine verschwindend geringe Zahl. Die Prozesse zur sexuellen Aufarbeitung im Sport würden leider noch in den Kinderschuhen stecken, konstatierte Marquardt. „Und irgendwann brauchen wir keine Studien mehr, sondern es muss gehandelt werden.“ Der Ball liegt ganz offensichtlich beim organisierten Sport.

Zur Startseite