Kühl und cool
Im Juni 1925 eröffnete die Kunsthalle Mannheim eine Ausstellung, deren Titel einer ganzen Kunstrichtung, wenn nicht einer ganzen Epoche den Namen gab: „Neue Sachlichkeit“. Der Untertitel allerdings wird meist ausgelassen. Er lautet „Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ und bezeichnet exakt, was die Ausstellung, zwei Jahrzehnte nach der Gründung der Künstlergemeinschaft „Die Brücke“, besiegelte: das Ende des Expressionismus. Der hatte nach dem Ersten Weltkrieg noch eine zweite Welle erlebt, die nun verebbt war.
Was Neue Sachlichkeit in der Malerei sein sollte, war 1925 noch nicht fest umrissen. Aus heutiger Sicht erstaunt, dass darunter auch Maler wie Otto Dix und George Grosz gefasst wurden, deren Bilder alles andere als „sachlich“ sind. Der Begriff der Neuen Sachlichkeit, nie genau definiert, fand bald auf alles Mögliche Anwendung. Im Jahr 1928 kommt die Revue „Es liegt in der Luft“ auf die Bühne, deren Titellied mit der Zeile beginnt, „Es liegt in der Luft eine Sachlichkeit“.
Eine Epoche wird besichtigt
Diese Melodie empfängt den Besucher, der im Pariser Centre Pompidou die Ausstellung mit dem etwas unschlüssigen Titel „Allemagne/Années 20/Nouvelle Objectivité/August Sander“ betritt. Es soll eine kulturelle Epoche ausgebreitet werden, zugleich aber monografisch das Werk des Fotografen August Sander.
Die Ausstellung, erarbeitet von Angela Lampe und Florian Ebner, die beide am Centre Pompidou tätig sind, knüpft an die großen thematischen Übersichten aus der Anfangszeit des Centre an, darunter „Paris – Berlin“ aus dem Jahr 1978, die Kunst und Kultur des ersten Jahrhundertdrittels in einer nie gesehenen Fülle und Vollständigkeit in Frankreich bekannt gemacht hatte.
Diesmal ist der Horizont deutlich enger gefasst. August Sanders monumentales und aufgrund der Zeitläufte unvollendet gebliebenes Projekt, „Menschen des 20. Jahrhunderts“, dient mit seinen in 45 thematischen „Mappen“ gesammelten Fotografien als Leitlinie, die denn auch mit ihren Stellwänden und Vitrinen diagonal durch die Ausstellung schneidet.
In den umgebenden Kabinetten, die dem Prinzip des „fließenden Raums“ gehorchen, sind Kunstwerke, Dokumente, Objekte zu sehen, die als „neusachlich“ bezeichnet werden können, aber manches auch, das nach heutigem Verständnis nicht mehr dazu zählt, wie die expressiven Gemälde des Mitbegründers des „Jungen Rheinlands“ Gert Wollheim.
Das Konzept, Sander zur Leitfigur der Neuen Sachlichkeit zu machen, geht nicht wirklich auf. Der 1876 im Westerwald geborene Fotograf gehörte keiner Kunstrichtung an, auch wenn er, der sein Berufsleben in Köln verbrachte, in den 1920er Jahren der dortigen Gruppe der „Progressiven“ nahe stand.
Menschen als Vertreter ihres Standes
Seine Vorgehensweise ist „sachlich“ im Sinne von dokumentarisch; ihm ging es darum, wie der Titel seines Vorhabens besagt, die Menschen seiner Zeit, seines Jahrhunderts in ihren Berufen und Tätigkeiten zu erfassen, nicht nur, aber auch als Typen, in deren Physiognomie ihr sozialer Stand eingeschrieben ist. Dabei überschneiden sich in seinen Porträts die untergegangene Gesellschaft des Kaiserreichs und die damals gegenwärtige der Weimarer Republik. Später hat Sander sogar drei Mappen hinzugefügt, die die neuen Kategorien der NS-Zeit einfangen, bis hin zu Zwangsarbeitern im Zweiten Weltkrieg.
Sanders Fotografien – nach gegenwärtigem Kenntnisstand sind es 619, die er aus tausenden Aufnahmen auswählte – waren wohl noch nie so umfassend zu sehen wie jetzt in Paris. Denn die Kuratoren haben, wo nur irgend möglich, Originalabzüge aus diversen bedeutenden Sammlungen zusammengetragen. In den thematisch geordneten Ausstellungsteilen – deren Titel nichts mit Sanders Konzeption zu tun haben – spielt die Fotografie ohnehin eine große Rolle, eben weil sie die Aufgabe der nüchternen Realitätswiedergabe übernommen hatte, so in den Objektaufnahmen von Albert Renger-Patzsch oder den Architekturfotografien von Werner Mantz.
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Das Bauhaus übrigens kommt nur am Rande vor: Stattdessen haben die Kuratoren sich in der Stadt Frankfurt umgesehen, deren Modernität erst 2019 in zwei bemerkenswerten Ausstellungen der Main-Metropole selbst nahegebracht wurde. Das „Neue Frankfurt“, so der Titel der programmatischen Zeitschrift, ist mit einer vollständigen „Frankfurter Küche“ von Margarete Schütte-Lihotzky präsent, die das Centre Pompidou erst in diesem Jahr aus einer Wohnung der von Stadtbaurat Ernst May entworfenen Siedlung Bornheimer Hang heraus erwerben konnte.
„Rationalität“ und „Nützlichkeit“ sind Überschriften, unter die sich die Kultur der späten Weimarer Republik in ihren guten Jahren zwischen 1925 und 1930 fassen lässt. Gemälde etwa von Christian Schad und Carl Grossberg zeigen die Distanz, die das Individuum als „kalte Persona“ zwischen sich und die Welt legt.
Ernüchterung nach dem Trauma
Es wird deutlich, dass die Ausstellung weniger an Stilmerkmalen orientiert ist als an der „kalten Persona“ als dem Prototyp einer Gesellschaft, die sich in ihrer Ernüchterung durch die traumatisch erlebte Niederlage im Weltkrieg gegen Gefühl und Pathos sperrt und einen rationalen, eher noch illusionslosen Zugang zu den Verhältnissen propagiert. In der Interpretation der Neuen Sachlichkeit als einer „Verhaltenslehre der Kälte“ folgen die Kuratoren dem vieldiskutierten Buch des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen. Das Werk August Sanders ist damit nicht zu fassen.
Schließlich nimmt die Ausstellung doch noch politisches Engagement in den Blick, vorrangig am Beispiel von Bert Brecht. Andererseits fehlt die Verbindung von moderner Montage-Technik und politischer Propaganda, wie sie John Heartfield auf den Seiten der „Arbeiter Illustrierten Zeitung“ vornimmt.
[Paris, Centre Pompidou, bis 5. September. Katalog 49 €]
Die „A.I.Z.“ taucht erst im Schlusskapitel auf, wo die Ausstellung von der Neuen Sachlichkeit Abschied nimmt und ihr die gesellschaftlichen Verlierer am unteren Ende der Sozialpyramide entgegenstellt. Die neusachliche Moderne, soll das heißen, war nur etwas für Betuchte – eine Polemik, die schon damals von Linksaußen erhoben wurde und bis heute nicht richtiger geworden ist.
Wie dem auch sei, die Ära des „Neuen“ fand 1933 ein abruptes Ende. In Mannheim findet bereits im Jahr der „Machtergreifung“ die Schandausstellung „Kulturbolschewistische Bilder“ statt, die die Ankäufe des verjagten Museumsdirektors Hartlaub denunzierte. Damit schlägt die Pariser Ausstellung einen bedrückenden Bogen zurück zum Auftakt von 1925.
August Sander schließlich hat trotz zunehmender Repressionen weiter fotografiert, sowohl Nazis wie politisch Verfolgte. Sein eigener Sohn kam als Widerständler 1944 im Zuchthaus um. Von ihm hat er die Totenmaske fotografiert und damit seine „Menschen des 20. Jahrhunderts“ abgeschlossen.