Die Tote im Zeichensaal
Zu den herausragenden Kennzeichen vornehmer Institutionen gehört ein Außenbild, das nicht herausragen soll. Das Theban, eine der besten und teuersten Mädchenschulen von New York, hat weder einen Namen noch ein Schild an der Tür. Das eigenschaftslos wirkende, an eine Behörde erinnernde Gebäude liegt „an einer dieser bezaubernden Seitenstraßen, die seit früheren, glücklicheren Zeiten unverändert scheinen“.
Was natürlich beides – der Stillstand und das Glück – eine Illusion ist. Dass hier unterrichtet wird, zeigt sich erst am Nachmittag, wenn Busse vorfahren, um die Schülerinnen heimzubringen.
Die amerikanische Anglistin Carolyn Heilbrun, die sich als Schriftstellerin Amanda Cross nannte, beherrschte das Stilmittel der Süffisanz. Ihre Beschreibung der Lehranstalt für höhere Töchter, Schauplatz des Romans „Thebanischer Tod“, ist gespickt mit Sticheleien. Das Theban war schon wegen Kriegen, Protesten gegen Kriege, Wirbelstürmen, Streiks und Stromausfall geschlossen worden. Nun muss es wegen polizeilicher Ermittlungen dicht gemacht werden. Im Zeichensaal war die Leiche der Mutter einer Schülerin gefunden worden.
Linguisten sind Detektive
Bekannt geworden ist Heilbrun, die 2003 im Alter von 77 Jahren starb, mit Kriminalromanen, in denen die Literaturwissenschaftlerin Kate Fansler verzwickte Fälle löst. Als Linguistin scheint sie für die Detektivarbeit prädestiniert zu sein, nur dass sie normalerweise mit ihrer Spürnase in Texten schnüffelt, nach Fährten sucht.
Fansler lehrt, genauso wie es ihre Schöpferin tat, an einer New Yorker Universität. Sie hat sich beurlauben lassen, um ein Buch über viktorianische Literatur zu schreiben. Stattdessen springt sie für eine erkrankte Lehrerin am Theban – ihrer alten Schule – ein und hält ein Seminar über Antigone.
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„Thebanischer Tod“ ist nach „Die letzte Analyse“ und „Der James Joyce-Mord“ der dritte Krimi von Amanda Cross, der in einer deutschsprachigen Neuausgabe erscheint. Das Original war 1971 herausgekommen, als die USA gesellschaftlich tief zerrissen waren. Das Setting erinnert an die Kaminfeuer-Gediegenheit der Whodunit-Romane von Dorothy L. Sayers oder Agatha Christie, aber die Atmosphäre ist aufgewühlt.
Die Schülerinnen interpretieren Antigone politisch, als Kämpferin, die sich gegen das Establishment und den militärisch-industriellen Komplex auflehnt. In Kreon, Antigones Gegenspieler, sehen sie einen Tyrannen mit den Zügen des verhassten Präsidenten Richard Nixon. Harte rhetorische Kämpfe werden ausgefochten, das macht den Plot sophisticated, aber auch ein wenig spröde.
Die Dobermänner sind harmlos
Eines der Mädchen – so etwas wie Antigones Wiedergängerin – versteckt ihren Bruder, der nicht in den Vietnamkrieg einberufen werden will, im Keller des Instituts. Nachts werden die Räume von zwei bösartig aussehenden Dobermänner bewacht.
In Wirklichkeit sind sie harmlos. Doch ihr Gebieter, der Hausmeister, ist ein ehemaliger Army-Oberst und reaktionärer Vertreter von Recht und Ordnung, dem man einen Mord zutrauen würde.
[Amanda Cross: Thebanischer Tod. Kate Fansler ermittelt. Aus dem Amerikanischen von Monika Blaich und Klaus Kamberger. Dörlemann, Zürich 2022. 286 Seiten, 19 €]
Aber wurde die tote Mutter überhaupt ermordet? „Den Dingen ins Gesicht sehen und nicht die Augen niederschlagen“, sagt Kate Fansler, die unerschrockene Spuren-Deuterin. Damit fordert sie die Schülerinnen auf, sich für Gleichberechtigung einzusetzen. Doch Verbrechen aufklären lassen sich mit der Maxime genauso.