Die Mittelfinger gehen nach oben
Ein Freund hat mir Karten für den Hertha-Block besorgt. Das wichtigste Spiel für den Klub seit vielen, vielen Jahren. Wenn der sündhaft teure Kader in die Zweite Liga muss, sieht es bitter aus für die Berliner. Es wird, wie wir inzwischen wissen, der sportlich größte anzunehmende Unfall für Hertha nicht passieren.
Vor dem Spiel ist die Stimmung noch entspannt. Schon in der S-Bahn Richtung Zielstation Stellingen diskutieren HSV-Fans mit Hertha-Anhängern. „Freut euch schon mal auf Sandhausen“, sagt ein Hamburger. Der Berliner antwortet: „Zweite Liga ist doch gar nicht so schlecht. Gewinnt man mal wieder.“ Alle lachen. Dann kommt Stellingen. Ein Meer von kaputten Biergläsern überschwemmt den Platz rund um die S-Bahn-Station, die Polizei ist zahlreich vorhanden.
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Spätestens nun ist deutlich spürbar, dass es heute um etwas geht. Und dass das womöglich nicht ganz gewaltfrei über die Bühne gehen wird. Auf dem Weg zum Eingang beobachte ich vor mir drei Hamburger Fans, alle so um die 20. Einer von ihnen läuft extrem breitbeinig und blickt grimmig. Der junge Mann, das strahlt er mit jeder Faser seines Körpers aus, will hier und heute nicht nur Fußball gucken. Er will Ärger machen. Selbst HSV-Fans, die seinen Weg kreuzen, pöbelt er an. „Ich bin so geladen“, brüllt er ins Leere.
Am Eingang Südwest, der für die Hertha-Fans vorgesehen ist, bietet sich die letzte Chance für die Besucher, noch einen Schluck Alkohol zu trinken. Im Stadion ist das verboten. Manche belassen es nicht bei einem Schluck. Ein junger Mann vor mir leert eine dreiviertel Flasche Pfefferminzlikör – Pfeffi – in wenigen Minuten. Überhaupt: Ich blicke in viele alkoholgetränkte Gesichter. Es scheint fast so, als würde das Alkoholverbot im Stadion den Konsum erst richtig befördern.
Ich bin im Block, das Spiel geht gleich los. Im Grunde ist es ein Frevel, dass ich hier stehe. Hertha liegt mir nicht am Herzen, mir ist der Verein gleichgültig. Ich will nur die Stimmung mitnehmen, aber nichts dafür tun. Ich stehe da in meiner braunen Jacke und nichts Blau-Weißes ziert mich. Ich bin der Nicht-Fan und deshalb ein Außenseiter. Die ersten Gesänge werden angestimmt. Alle umarmen sich, dann wird gemeinsam im Block gehüpft. Bei mir bricht die Kette. Die ersten Hertha-Fans drehen sich zu mir um und fordern mich laut brüllend zum Mitmachen auf. Jetzt habe ich erst recht keinen Bock drauf.
Nun werden die Teams vorgestellt. Der Stadionsprecher beginnt mit dem Torhüter des HSV. „Mit der Nummer eins, Daniel …“ Der Hertha-Block brüllt geschlossen mit erhobenen Mittelfingern: „Hurensohn!“ Und so geht das bei jedem weiteren HSV-Spieler. Neben mir sitzt ein weiterer Außenseiter. Ein älterer Herr, Hamburger und HSV-Fan, schaut mich traurig an. Er hat nur diese Karte bekommen und will das Spiel unbedingt – wenn auch im falschen Block – ansehen. „Ich werde ganz ruhig sein heute“, sagt er.
Zum ersten Mal richtig leiden muss er nach vier Minuten. Hertha geht in Führung. Die Lautstärke im Block ist enorm. Ich bekomme ein paar Bierspritzer ab. Wenig später setze ich meine Kopfhörer ein, weil der Lärm nicht abebbt. Das muss man den Berliner Fans lassen: Sie peitschen ihre Mannschaft über die gesamte Spieldauer fantastisch an. Die Aggressionen im Block halten sich in Grenzen. In der Halbzeit gibt es zwischen ein paar Hertha-Fans und einem Ordner eine Diskussion. Hinter mir winkt schon ein junger, schwer alkoholisierter Mann in Richtung der anderen. Er hofft, dass sich noch viel mehr zusammenfinden und es im Block zu Reibereien nicht nur mit den Ordnern, sondern dann mit der anrückenden Polizei kommt. Doch nichts passiert.
Es überwiegt die Euphorie, die ihren Höhepunkt in der zweiten Halbzeit mit dem Tor zum 2:0 findet. Die Fans vor mir drehen sich um und klatschen sich mit mir ab. Auch mein Nebensitzer, der HSV-Fan, schlägt zähneknirschend mit ein. Fünf Minuten vor Spielende wünsche ich ihm alles Gute und verschwinde aus dem Block. Ich habe genug gesehen. Und als Nicht-Fan bin ich in der Hertha-Euphorie ein noch größerer Außenseiter, als ich es schon das ganze Spiel über gewesen bin.