Wenn sich die Zeiten gleichen
Es ist in diesen Tagen nicht ganz einfach, einen vor hundert Jahren erschienenen literarischen Text mit dem Titel „The Waste Land“ nicht mit den Verheerungen eines Angriffskriegs in Verbindung zu bringen, der die liberalen Demokratien Westeuropas mit einer vermeintlich überwundenen geopolitischen Bedrohungslage konfrontiert. Zumal „der derzeitige Verfall Osteuropas“, von Thomas Stearns Eliot ausdrücklich als thematischer Hintergrund seines Langgedichts ausgewiesen wird, mit dem ihm 1922 im Alter von 34 Jahren der internationale Durchbruch gelang.
Der Krieg ist aber bloß eine Bezugsgröße unter vielen, auch wenn er drei Jahre nach Versailles noch allen Europäern in den Knochen steckte. Das 433 Zeilen lange, in fünf Abschnitte unterteilte Werk ist vielmehr als ein Kaleidoskop der inneren Verödung zu verstehen, die auf ihn folgte. Die europäische Nachkriegszivilisation habe im Zeichen einer liberalen oder marxistischen Fortschrittseuphorie – das ist für Eliot einerlei – ihre kulturellen Werte und Glaubensgrundsätze preisgegeben.
Eliot durchlebte ein Jahr großer Unzufriedenheit
Übrig bleibt der vereinzelte Mensch im Zustand der Apathie und Sinnferne, wie ihn die „wichtigste Figur in dem Gedicht“, der blinde Seher Teiresias, anhand einer schnellen Nummer im Angestelltenmilieu versinnbildlicht. „Das wär vorbei. War leider an der Reihe“, sagt die Tippse, nachdem der Galan „mit forschem Air“ das Feld geräumt hat.
Die deutsche Übersetzung von Eva Hesse (1972) dimmt die stakkatohafte Härte, mit der Eliot den Text vorzutragen pflegte, ein wenig herab. Interpretatorisch nimmt sie sich mehr heraus als die jahrzehntelang maßgebliche Übertragung von Ernst Robert Curtius (1957) oder die Neuübersetzung des Lyrikers Norbert Hummelt anlässlich Eliots 120. Geburtstag (2008), die umgangssprachlicher angelegt ist, das Pathos reduziert und so das „Hohelied der Bitternis“ (Hummelt) leichter zugänglich macht.
Schon die berühmte erste Zeile, „April is the cruellest month …“, die ein böses Frühlingserwachen anzeigt, verdeutlicht die konzeptionellen Unterschiede. Während Curtius wörtlich übersetzt: „April ist der grausamste Monat“ und Hummelt „der übelste Monat von allen“ vorschlägt, „benimmt“ er bei Hesse „das Herz“ oder wird in der überarbeiteten Suhrkamp-Ausgabe von 1988 durch ein rhythmisierendes Komma von „der ärgste Monat“ abgesetzt.
Peter Iden erinnerte vor zwei Jahren der „Verlust von Ausblick“ in Eliots Jahrhundertgedicht fatal an unsere Gegenwart. „Das Jahr, in dem ,Das wüste Land’ geschrieben wurde“, so Eliots Biograf Peter Ackroyd, „war ein Jahr schlimmster politischer und wirtschaftlicher Unzufriedenheit: Der Nachkriegs-,boom’ war zusammengebrochen, es gab zwei Millionen Arbeitslose, und das Wirtschaftschaos wurde noch durch die Unentschlossenheit der Koalitionsregierung verschärft. Eliot verachtete die Demokratie, (…) und mit starken Worten beschrieb er die Hass- und Abscheugefühle, die die Zeitsituation in ihm erweckte.“ Hinzu kam seine äußerst angespannte berufliche und private Situation.
Sowohl bei Eliot als auch bei seiner ersten Ehefrau Vivien Haigh Wood lagen in dieser Zeit buchstäblich die Nerven blank, weil er sich als Angestellter der Londoner Lloyd Bank kaum aufs Schreiben und seine geplante literarische Zeitschrift „Criterion“ konzentrieren konnte und sie von der Pflege ihres Vaters aufgerieben wurde. Eliot befand sich eigenem Bekunden nach in einem Zustand der Willenlosigkeit (Abulie); Ackroyd spricht von einem „Sich-Abschließen in negative Kälte“. Erst während einer psychotherapeutischen Behandlung in Lausanne gelang es ihm, diese Selbstverfangenheit für einen Moment zu überwinden und die „Fragmente“, die er „wider mein Scheitern angedämmt“ hatte, zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen.
Aus guten Gründen wird „The Waste Land“ als lyrisches Pendant zu James Joyce’ Roman „Ulysses“ bezeichnet, der im selben Jahr erschienen ist. Mit dem „Bewusstseinsstrom“ als Radikalisierung personalen Erzählens, mit seiner dissonanten Vielstimmigkeit, vor allem aber durch die Vergegenwärtigung des Mythos im modernen Alltag hatte Joyce auf ähnliche Art mit literarischen Konventionen gebrochen, wie es auch Eliot vorschwebte. Neben Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“ (1913) soll die Lektüre der späten „Ulysses“-Kapitel den Knoten bei ihm gelöst haben.
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Im Januar 1922 übergab Eliot das Manuskript zur kritischen Durchsicht an seinen Dichterkollegen und Freund Ezra Pound, der die musikalische Qualität, den untergründigen Rhythmus des Gedichts erkannte und ihm eine Ordnung oktroyierte, die es zuvor nicht besaß. Um es in einen überzeitlichen geistigen Horizont einzubetten, hatte Eliot hemmungslos Quellen wie die Bibel, die Artus-Sage, hinduistische Veden und dazu noch die Prunkstücke des literarisch-abendländischen Hochadels von Dante über Shakespeare bis Baudelaire zitiert oder paraphrasiert.
Für die Buchausgabe machte das einen Anmerkungsapparat erforderlich, der neben der Erweiterung des Umfangs auch zur Abwehr von Plagiatsvorwürfen diente, mit denen Eliot einschlägige Erfahrungen hatte.
Zeitgenossen sahen eine Offenbarung moderner Empfindungsfähigkeit in dem Werk
Pound fand auch hierfür Lösungen, die das schwer zugängliche Gedicht offen für Interpretationen hielt. Der epochale Erfolg des Sprachkunstwerks „The Waste Land“ dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass es bis heute als Projektionsfläche für mannigfaltige Lesarten taugt. Dass der „bessere Schmied“, als der Pound in Eliots Widmung bezeichnet wird, sich zur Weiterarbeit an seinen „Cantos“ inspiriert sah, rundet eine der folgenreichsten kreativen Kettenreaktionen der Weltliteratur ab.
Nachdem Eliot sein 54-seitiges Manuskript ausgeschwitzt und Pound nach einem „Kaiserschnitt“ ein Drittel davon übriggelassen hatte, löste die Veröffentlichung im ersten „Criterion“-Heft im Oktober 1922 unter jungen Schriftstellern (den „Waste Landers“) Begeisterung aus. Man sah eine Offenbarung moderner Empfindungsfähigkeit darin, die an die großen Wahrheiten heranreiche.
In Ermangelung philosophisch-religiöser Gewissheiten wurde Eliots Schriften eine moralische Glaubwürdigkeit zugesprochen, die den späteren Nobelpreisträger eher überforderte als ehrte. Für ihn, der sich selbst nicht über den Weg traute, stand „Das wüste Land“ für die Vergeblichkeit des Versuchs, der Existenz einen Sinn zu verleihen. Sollte sich Wahrheit darin finden, so läge sie im Scheitern.