Hilferuf aus Trümmern
Es ist der dramatischste Moment in der abendländischen Kirchenmusik, das „Dies irae“, das auf die fast tonlos geflüsterten ersten Chor-Worte in Verdis „Requiem“ folgt, die Selbstdisziplinierungsappelle der Männer im „Te decet“ und die kollektiven Evokationen des „Kyrie“. Martialische Klangkaskaden, zuckende Blitze, Fortissimo-Detonationen, die totale Invasion: Ernst Bloch sprach von Sprengschlägen und bodenlos stürzenden Schreien.
Auch die Berliner Philharmoniker und der Rundfunkchor unter Leitung von Daniel Barenboim lassen die Ohren schrillen. Kaum hat der Furor sich gelegt, stimmen die Blechbläser ihr infernalisches „Tuba mirum“ an. Wohl keiner in der ausverkauften Philharmonie, der jetzt nicht an die Ukraine denkt.
Der Tod ist unfassbar, der Kollaps jeglichen Sinns. Giuseppe Verdi steigert ihn zum Kollaps der Sinne. Drei Mal reißt er in seiner wahlweise als „Oper im Kirchengewande“ und „liturgisches Ungeheuer“ beschimpften oder wegen ihrer Theatralik und Actionthriller-Qualitäten gefeierten Totenmesse den Höllenschlund auf.
Aber der Furor verliert nicht das menschliche Maß. Das als Requiem für Verdis patriotischen Gesinnungsgenossen Alessandro Manzoni 1874 uraufgeführte Werk hat der Komponist aus der Keimzelle des finalen „Libera me“ entwickelt, welches er zuvor zur Gemeinschafts-Totenmesse für seinen Kollegen Rossini beigesteuert hatte.
Trauermusik, die von tief empfundenem Schmerz und Seelenkonflikten durchzogen ist, von der Beschämung derer, die hilflos zuschauen und Schuld auf sich geladen haben. Auch das ist in diesen Tagen von bestürzender Aktualität.
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Stammeln, Stocken, schluchzende Geigen, das Flehen um Vergebung: Die A-cappella-Bitten des Chors gemahnen an gregorianische Stundengebete. Das Solisten-Quartett schlägt immer wieder ungeschützte, intime Töne an, Susanne Bernhard mit ihrem erst etwas nervösen, dann zunehmend risikofreudigen, ergreifenden Sopran, der Tenor Michael Spyres, der vor allem in den zurückhaltenden, lyrischen Passagen überzeugt, Tareq Nazmis sonorer, manchmal unerbittlicher Bass. Sie alle bekennen sie sich zur Demut, zur Schmach. Mezzosopranistin Marina Prudenskaya gemahnt mit ihren Kassandrarufen im „Liber scriptus“ an das Jüngste Gericht, zum klagenden Fagott von Stefan Schweigert. Eine Tragödin der Angst und der Apokalypse.
Als Erste Konzertmeisterin gastiert die Geigenvirtuosin Lisa Batiashvili
Wegen krankheitsbedingter Ausfälle sind alle vier Solist:innen kurzfristig eingesprungen, Bernhard und Nazmi debütieren an diesem Abend in der Philharmonie. Man wünschte ihnen etwas mehr Unterstützung von Barenboim, der in Schonhaltung dirigiert, womöglich wegen seines Rückenleidens. Den Riesenapparat mit über 150 Mitwirkenden auf dem Podium hält er eher lose zusammen.
[Verdis “Requiem” wird nochmals an diesem Sonnabend (19 Uhr) und am Sonntag (20 Uhr) in der Philharmonie aufgeführt. Es gibt wenige Restkarten.]
Vielleicht ist mehr auch gar nicht nötig bei diesem so expliziten Meisterwerk, vorgetragen von Spitzenmusikern – und von niemand Geringerem als Lisa Batiashvili als Gast auf dem Stuhl der Ersten Konzertmeisterin Die Georgierin, die Putins Angriffskrieg scharf verurteilt und 2015 auf dem Maidan spielte, tritt am Dienstag beim Ukraine-Solidaritätskonzert des DSO als Solistin in der Philharmonie auf.
Und doch fehlen an diesem Abend jene letzte innere Intensität und Tiefendimension, die sich dem „Requiem“ abringen lassen. Zumal Verdi den Seelenfrieden des ewigen Lichts nach dem unruhigen Chor-Fugato verweigert. Befreie mich: Ein Hilferuf aus Trümmern, das ist das Ende.