Was politisch ist, das ist auch sozial
Zunächst sieht es nach einem eleganten Paarlauf aus. Juliane Rebentisch hakt sich bei Hannah Arendt unter, der Ton ist klar, die Motive sind bekannt: Arendts Aktualität, ihre Bedeutung für die heutigen Debatten, ihre aus der eigenen Erfahrung gespeisten Reflexionen über Flucht, Staatenlosigkeit und Totalitarismus, die zentrale Frage der Menschenwürde, die Gefährdung des öffentlichen Raums durch die kapitalistische Ökonomie, die Verteidigung der Pluralität bei gleichzeitig starker Anwesenheit der Person in ihrem Denken.
Als „Apologie der Pluralität“ lasse sich Arendts Werk lesen, charakterisiert Rebentisch mit dem Untertitel des jüngst zum ersten Mal auf Deutsch erschienenen Sophokles-Vortrags von 1954 ihr eigenes Vorhaben.
„Der Streit um Pluralität“ ist aus zum Teil bereits veröffentlichten Texten zusammengefügt. Der Duktus reicht vom geschmeidigen Surfen auf bekannten Arendt-Motiven bis hin zu begriffsgesättigten Tiefenbohrungen mit gelegentlich allzu vielen heterogenen Zitaten. Öfter kann man staunen, was Rebentisch gelingt. Mit Spürsinn und Treffsicherheit steuert sie die heiklen Stellen in Arendts Werk an, um „Arendt gegen Arendt zu diskutieren“.
Kreation und Depression
Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main, analysiert Phänomene gern über die Grenzen des Fachs hinaus. Mit der Kritischen Theorie im Rücken hat sie Bücher über die „Ästhetik der Installation“ und „Die Kunst der Freiheit“ geschrieben und Sammelbände herausgebracht, unter anderem zu den erschöpfenden Kreativitätsanforderungen des Spätkapitalismus, „Kreation und Depression“, zusammen mit Christoph Menke.
Nach Hannah Arendt 1959 und Agnes Heller 1981 erhielt sie 2017 als dritte Philosophin (und dritte Frau) den Lessing-Preis. Nun ist ihr neuestes Buch in der Kategorie Sachbuch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
[Juliane Rebentisch: Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 288 Seiten, 28 €.]
Es sei dahingestellt, ob man Hannah Arendt tatsächlich ein „Denken in Dichotomien“ attestieren kann. Dafür war die aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA emigrierte jüdische Philosophin zu eigensinnig. Spätestens seit der Edition der Kritischen Gesamtausgabe im Wallstein Verlag ist offenkundig, dass sie ihre Denkbewegungen immer wieder nachjustierte.
Ihre Zweisprachigkeit und die Tatsache, dass sie ihre Werke selbst hin und her übersetzte und dabei veränderte, spricht eher für ein Denken, das bei aller Klarheit situativ in Kontexte und Bezüge verwoben war. Richtig aber ist die Beobachtung, dass Arendts „Unterscheidungen zwischen privater, sozialer und politischer Sphäre“ immer wieder zu Äußerungen führten, die gerade in Hinsicht auf den fundamentalen Gedanken der Pluralität fragwürdig sind.
Spießrutenlauf Schwarzer Schülerinnen
Etwa wenn sie in ihren berühmt-berüchtigten „Reflections on Little Rock“ den Spießrutenlauf kommentierte, den die „Little Rock Nine“, die ersten neun Schwarzen Schülerinnen und Schüler der Central High School in Little Rock im Bundesstaat Arkansas, bewältigen mussten, um nach der 1954 vom Obersten Gerichtshof verfügten Aufhebung der Segregation die bis dahin weiße Schule zu besuchen.
Wider Erwarten empörte sie nicht in erster Linie der Rassismus, sondern sie plädierte für das Recht der Schulen, ihre Schüler selbst auszuwählen, weil sie den Besuch von Schulen der privaten und nicht der politischen Sphäre zuordnete. Gleichheit vor dem Gesetz sei unabdingbar, schließe aber gesellschaftliche Ungleichheit nicht aus.
Juliane Rebentisch diskutiert auch die Stellen im frühen Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, bei denen sich Arendt in der Abgrenzung vom biologischen „Rasse“-Begriff der Nazis zu einer Betrachtung vermeintlich „wirklicher Rassen“, die es in Afrika gäbe, hinreißen lässt, um den Holocaust aus dem Kolonialismus abzuleiten. Statt den „Rasse“-Begriff aufzugeben, rettet sie ihn als „politischen Begriff“.
Als solcher habe er eine „präzise Bedeutung“, schreibt Arendt. Während sie in diesen Passagen bekannte Konflikte referiert, moniert Rebentisch an anderen Stellen den methodischen Zugriff. Etwa wenn sie die herablassende Art beschreibt, mit der Arendt auf James Baldwins Artikel „Letter from a Region in My Mind“ im „New Yorker“ 1962 reagierte, und ihm nach einer flüchtigen „Fehllektüre“, wie Rebentisch meint, vorhält, dass die Liebe in der Politik nichts zu suchen habe.
Stimmen Schwarzer Existenz
Was Hannah Arendt versäumte, nämlich die Schwarze Perspektive so einzunehmen, dass sie den eigenen Anforderungen an die Pluralität des öffentlichen Raums genügt, holt Rebentisch nach. Sie zitiert nicht nur Theoretiker der Black Studies, von Orlando Patterson über Fred Moten und Saidiya V. Hartman bis zu Frank B. Wilderson III, sie gibt Motens „Blackness and Nothingness“ sowie Pattersons „Slavery and Social Death“ eigene Siglen. So werden sie, zumindest bei flüchtiger Lektüre, klammheimlich in ihr Werk integriert, als Stimmen, die zu Wort kommen, wenn es etwas über Schwarze Existenz zu sagen gibt.
Dabei exponiert sie auch Fred Motens Überlegung, den von Hannah Arendt im Verhältnis zum Politischen abgewerteten Raum des Sozialen begrifflich zu stärken. Schon Arendts Freundin Mary McCarthy hatte ja auf einer Konferenz 1972 in Toronto die Trennung der sozialen und der politischen Sphäre für „mysteriös“ gehalten. Was bliebe vom Politischen übrig, wenn man alles ausschließe, was die soziale Sphäre berührt?
Wie Eva von Redecker in ihrem Buch „Gravitation zum Guten“ Arendts Moralphilosophie von der Problemlage, die sich durch den Eichmann-Prozess ergeben hatte, bis zum nicht mehr vollendeten Spätwerk „Vom Leben des Geistes“ verfolgte, setzt auch Rebentisch bei der Moralphilosophie an. „Eine Kultur der Pluralität ist (…) der Schlüssel zu einer modernen Moral.“
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Dabei gehe es nicht nur darum, dass „Schwarze Zugang zur Welt der Weißen erkämpfen, um innerhalb derselben den Streit der Perspektiven zu beleben. Es geht darüber hinaus um die fundamentale Transformation dieser Welt, um eine Reorganisation der kommunikativen Parameter, sozialen Wahrnehmungsmuster, der Vokabulare und der Bilder, in denen sich das Selbstverständnis des weißen Erscheinungsraums artikuliert.“
Das müsste genau genommen für alle Gruppen gelten, die im öffentlichen Raum, den Arendt als „Erscheinungsraum“ definiert, in dem „Menschen mit Taten und Worten (…) zeigen können, wer sie sind und was sie tun können“, nicht mit eigenen Formen der Selbstpräsentation vorkommen.Die Frage, was mit dem „fragilen intersubjektiven Raum“ der Öffentlichkeit geschieht, wenn er für alle geöffnet wird, stellt Rebentisch nicht. Vermutlich begänne erst dort die Transformationsarbeit im eigentlichen Sinne. Meike Feßmann