Macht und Ohnmacht der Zahl
100 000 Tote, eine schreckliche Zahl. Eine Zeitung veröffentlichte die Namen dazu, nicht alle, aber tausend, mit ein paar Lebensdaten, eine Liste in kleinen Lettern, ein Schock, ein Epitaph. Das war im Mai 2020 in den USA, ein Fanal der „New York Times“ gegen Trumps Corona-Verharmlosung, angesichts von 100 000 amerikanischen Covid-Opfern.
100 000 Tote. Eine schreckliche Zahl, jetzt ist sie in Deutschland erreicht. Die „Süddeutsche“ füllte vier Seiten mit 100 000 Kreuzen, druckte 15 kurze Memorials von Angehörigen. Der Tagesspiegel hatte unter dem Titel „Diese Menschen fehlen“ im Dezember 2020 Dutzende Memorials veröffentlicht, und seitdem eine Kerze für jeden Toten.
Hinter jeder einzelnen Zahl steht ein Mensch, ein Name, ein Gesicht, ein Schicksal, Trauernde, Familie, Freunde. Weltweit zählten die Corona-Statistiker im September 2020 eine Million Tote, im Januar 2021 zwei Millionen, inzwischen über fünf Millionen. Spitzenreiter sind die USA, Brasilien, Indien, Russland. Spitzenreiter, eine makabre Vokabel.
Der Tod bleibt ein Tabu
Wir haben uns in der Pandemie an Zahlen gewöhnt. Corona, diese unsichtbare Bedrohung, machen wir sichtbar mit Listen, Kurven, Tabellen, rationalisieren und rationieren das irrationale Virus. Aber so sehr wir uns auch bemühen, wir kommen ihm nicht bei mit der aktuellen Inzidenz, dem Reproduktionswert, dem Hospitalisierungswert, den Impfquoten. Trotzdem fängt der Tag fängt damit an, dass wir einen Blick darauf werfen. Wenn eine runde Null erreicht ist, erschrecken wir über die Wegmarke, halten kurz inne.
Zahlen sind beides, konkret und abstrakt, sie machen benommen. Je höher sie sind, desto mehr übersteigen sie die Vorstellungskraft, führen in die Anonymität, schaffen Distanz. Wir wissen uns nicht anders zu helfen. Die Empörung über Jens Spahns 3G-Menetekel „Geimpft, genesen, gestorben“ ist groß: Lieber wird in den Nachrichten davor gewarnt, dass zu viele Kranke auf die Intensivstation kommen. Der Tod als nächste Station bleibt ein Tabu, hunderttausendfach.
Es ist vermessen, die Opfer mit Zahlen messen zu wollen
Wenn es um den Tod geht, um Krankheit, Krieg und Gewalt, lagen Macht und Ohnmacht der Zahl schon immer nahe beieinander. Im ältesten Theaterstück der Welt, den „Persern“ von Aischylos, werden die Namen der Kriegsopfer aufgezählt, nicht des eigenen, sondern des besiegten Volks. Eine Liste als Empathie-Nachweis. Die Namen der Holocaust-Opfer in Yad Vashem und anderen Gedenkstätten, die Listen der Vietnam-Opfer, der Mittelmeer-Flüchtlinge, es sind Gesten gegen das Vergessen, Versuche, die Abstraktion im Akt der Erinnerung zurückzunehmen. Der Toten namentlich zu gedenken, heißt, ihnen Würde zu geben. Zahlen sind würdelos.
Wir vermessen, was und wen wir vermissen. Im Deutschen hat das Wort eine doppelte Bedeutung: Ja, es ist vermessen, das Pandemiegeschehen mittels Zahlen abbilden zu wollen, damit die Politik eine Übersicht bekommt, eine numerische Kontrolle über den Tod, um Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen. Aber es geht nicht anders. In der vierten Welle steigen die Zahlen in Deutschland so schnell wie nie. Die düstere Prognose der Kanzlerin vom September, an Weihnachten könnte es täglich 19 200 Neuinfizierte geben, ist längst übertroffen. Exponentiell wachsend, galoppieren die Zahlen davon, und die Politiker, wir alle haben das Nachsehen.
Angela Merkel versprach im März, sie werde nicht zuschauen, bis es täglich 100 000 neue Ansteckungen gebe. Wir sind jetzt bei bald 70 000 pro Tag. Die Zahl der Berliner Corona-Toten beläuft sich aktuell auf 3790. Diese Menschen fehlen. Wann kommt die nächste runde Null, die nächste Wegmarke? Der Tod bleibt unermesslich.