Nur wer die Sehnsucht kennt
Ein zarter, einzelner Ton, fast verliert er sich im großen Saal des Konzerthauses. Philippe Jaroussky hat sich nach seinen Triumphen als virtuoser Countertenor-Star schon länger dem Kontemplativen verschrieben. Jenen ungeschützten Momenten, in denen selbst das Herzschlag-Pochen der Continuogruppe verstummt und nur das eine bleibt, ein Mensch, der seine Stimme erhebt. Weshalb der A-Cappella-Beginn der „Altro Giove“-Arie aus Porporas Oper „Polifemo“, dieses langgezogene silbrige H, der ergreifendste Augenblick an diesem Barockabend ist.
Jaroussky und das Ensemble Concert de la Loge führen das Programm gleich zwei Mal in Folge auf, wegen der Nachfrage und coronabedingt limitierter Plätze. Angekündigt ist ein heißes Duell, Händel-Arien für den Kastraten Carestini versus Propora-Arien für Farinelli. Oder besser, eine Revision jenes erbitterten Konkurrenzkampfs, wie Händel und sein heute weit unbekannterer Kollege Nicola Porpora ihn in den 1730er Jahren in London ausfochten. Mit dem Ergebnis, dass beider Opernhäuser bald ruiniert waren.
Jarrousky zeigt seine ganze Virtuosität
Aber Jaroussky und das 2015 gegründete Alte-Musik-Ensemble unter Leitung von Julien Chauvin unterlaufen jede Erwartung eines Schaulaufens von Zirkuspferden. Weil sie sich mit Ausnahme einer Sturm-Arie aus Händels „Oreste“ und der furiosen Porpora-Arie „Alontanata agnella“ auf Klage- und Sehnsuchtsgesänge konzentrieren. Herzensangelegenheiten, gefrorene Tränen, Wutausbrüche: Wie immer ziseliert Jaroussky die barocken Affekte, versetzt sie mit feinen Trillern und genüsslichen Vorhalten.
Ja, es ist noch da, sein engelsgleiches, manchmal schneidendes androgynes Timbre, der erotische Duktus, und die rasanten Virtuosenläufe machen ihm keine große Mühe. Aber man versteht schon, warum sich der 43-jährige, immer noch jungenhafte Franzose neuerdings auch dem Dirigieren widmet.
Bei den Registerwechseln tun sich Haarrisse auf, die Farb- und Phrasierungsnuancen, um die sich Jaroussky in jeder einzelnen Kantilene bemüht, stoppen wie Widerhaken den Melodiefluss, die Höhen wirken eine Spur forciert. Es fordert seinen Preis, von der Zerbrechlichkeit des Gesangs zu künden.
Warum nicht ein drittes Konzert?, freut sich Jaroussky am Ende des zweiten Durchlaufs und singt als Zugabe die Sarabande „Verdi prati“ aus der Händel-Oper „Alcina“, bei der er zuletzt an der Seite von Cecilia Bartoli auf der Opernbühne stand. Schwere Süße, noch so eine Wehmuts-Arie. Concert de La Loge sorgt derweil dafür, dass der Abend nicht ins Gefühlsselige kippt. Die Verve bei Händels Concerti grossi HWV 316 und 319, die zupackenden Tanzrhythmen mit immer elegant geschliffenen Kanten reißen einen beinahe vom Sitz.