Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (68): Das Bierzelt und der Held von Isjum
Dass das Oktoberfest wieder stattfinden sollte, habe ich ausgerechnet durch ein ukrainisches Nachrichtenportal mitbekommen. Zurzeit findet man da fast nur Meldungen aus der Ukraine – umso surrealer wirkt es, wenn dazwischen etwas steht, was nicht mit dem russisch-ukrainischen Krieg zu tun hat.
„Charkiw wurde in der Nacht wieder beschossen. Zwei Frauen sollen ums Leben gekommen sein“ – „Isjum. Über 400 Leichen im Massengrab gefunden“ – „München. Nach zwei Jahren Pause wieder das Oktoberfest“ – „Russland in Verzweiflung am Rande einer Atomkatastrophe“.
Und plötzlich erinnere ich mich – nicht nur an das Oktoberfest, auch ich bin bald in München, und zwar mit einem neuen Projekt: Pumpkin Machine. Über das Konzept dafür habe ich mit der Sängerin Andrea Pancur noch Ende 2019 gesprochen – laut unserem ursprünglichen Plan hätte ich im November 2020 in eine Künstlerresidenz nach München kommen sollen, dort hätten wir mit anderen Musikern ein buntes Programm entwickelt, bei dem traditionelle bayerische Musik auf Klezmer, elektronische Beats, lustige Samples und Rap treffen würde.
Alle außer mir haben sich tatsächlich in der bayerischen Hauptstadt getroffen – ich jedoch fuhr Anfang November 2020 in den Donbass, um in Popasna sowie vier anderen Orten mit Jugendlichen Musik zu machen.
Die Schule Nummer 1, wo wir in der Aula mit meinen jungen Schreibpartner*innen unsere Songs produziert haben, ist heute so gut wie komplett von russischen Raketen zerstört, so wie die ganze Stadt Popasna, und auch die Schule Nummer 3 der Stadt Mykolajiwka, wo wir mit unserem Team im Dezember 2021 vor dem ersten Auftritt zusammen probten.
Während ich mit den ukrainischen Kindern im Donbass Lieder komponierte, haben Andrea und ihre Musikerkollegen in München auch fleißig gearbeitet – und dieses Jahr bekam ich die zweite Chance, bei Pumpkin Machine mitzumachen. Diese Woche spielen wir unsere ersten gemeinsamen Konzerte, los geht’s am Montag – beim Oktoberfest. In meinen DJ-Koffer habe ich eine gelb-blaue Fahne gepackt, auf der Bühne werde ich ukrainische Klamotten tragen – eine Wyschywanka mit dem jüdischen Stickmuster aus Lwiw sowie Charkiwer T-Shirts.
Immer wieder frage ich mich in den letzten Monaten, wie es Menschen gerade schaffen, zu feiern? Wie geht das? Wie kommt man in die richtige Stimmung? Habe ich es etwa verlernt? Haben alle Ukrainer diese Fähigkeit verloren? Auch bei unserer Ankunft am Oktoberfestgelände denke ich darüber nach, während an mir vorbei Männer in Lederhosen und Frauen in Dirndl laufen.
Trotz Stau sind wir pünktlich im Herzkasperlzelt angekommen, wo unser Auftritt stattfinden soll. Auf der Bühne spielt eine Blaskapelle und ich versuche mir die Publikumsreaktion vorzustellen, wenn wir gleich mit ungeraden Rhythmen und schrägen Synthiesounds unser Set beginnen.
Mein Handy vibriert – Nachrichten von Oleg Sosnov. Er begleitet zurzeit ein französisches Journalistenteam im Gebiet Charkiw, manchmal berichtet er mir davon, was sie erlebt haben, und schickt Fotos. Neben mir rülpsen und lachen ein paar ältere Herren mit Trachtenhüten, vor jedem eine Maß Bier. Auf Olegs Fotos sehe ich ein Schulgebäude in Isjum, wo die russen ihre Folterkammer eingerichtet haben, die zerstörten Wohnhäuser, die geöffneten Massengräber.
Auf einem der Bilder ist ein grauhaariger Mann unter dem Schild „Ritualgüter und Denkmäler“ zu sehen. „Das ist Vitali, der unbekannte Held von Isjum“, schreibt Oleg. „Uns ist es gelungen, ihn zu finden! Auf dem Foto steht er vor seinem Bestattungsbüro, er blieb in der Stadt, als sie von den russen besetzt wurde, und hat auch unter Beschuss Menschen begraben und jeden einzelnen Namen aufgeschrieben, dank ihm wird man jetzt 445 Tote identifizieren können.“
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