Vorwärts zum verriegelten Paradies: Lit:Potsdam beginnt im Park Sanssouci

Wie leicht wäre es, dieses Festivalthema über sein Schockpotenzial zu erzählen. „Vorwärts zur Natur“ ist die 12. Ausgabe des Literaturfestivals Lit:Potsdam überschrieben. Im Nacken Hitzejuni, Überschwemmungen in Italien, Waldbrände in Kalifornien. Der Auftakt fand im Schlosstheater im Neuen Palais statt, und auch hier direkt um die Ecke lassen sich Folgen des Klimawandels ablesen: Achtzig Prozent der Bäume im Park von Sanssouci sind beschädigt.

Anstatt auf Drohszenarien aber setzt Festivalleiter Denis Scheck auf gute Laune und guten Mut, trotz allem. Und erinnert daran, dass sich das Motto ganz bewusst vom „Zurück zur Natur“ à la Rousseau absetzen will. Nicht zurück, vorwärts soll es gehen. Ein bisschen wie bei Kleist, den Scheck später paraphrasieren wird. Da das Paradies derzeit offenbar verriegelt sei: Müsse da nicht die Literatur zur Helferin werden, um die Reise um die Welt zu machen, und zu sehen, „ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist?“

Das literarische Genre, das sich diesem Versuch verschrieben hat, heißt „Nature Writing“. Zwei der bekanntesten Vertreterinnen wurden nach Potsdam eingeladen. Die Britin Helen Macdonald, international bekannt geworden durch ihren 2014 erschienen Roman „H wie Habicht“, las aus dem Essayband „Abendflüge“. Hierzulande namhafter ist Judith Schalansky, die mit „Der Hals der Giraffe“ bekannt wurde und deren „Verzeichnis einiger Verluste“ es auf die Longlist zum International Booker Prize schaffte.

„Wir nehmen etwas erst wahr, wenn wir es nennen“

In Potsdam begegneten sich die Autorinnen zum ersten Mal – überfällig offenbar. Und so herzlich, dass Moderator Scheck sich eingangs als „Schadchen“ preist: als Kuppler vor dem Herrn. Während des Gesprächs spielen sich die Frauen oft selbst die Bälle zu. Nature Writing beschreiben beide als Versuche, Zeugenschaft abzulegen. „Wir nehmen etwas erst wahr, wenn wir es nennen“, sagt Schalansky. Hier kommt Literatur ins Spiel.

Beide Autorinnen entdeckten über persönliche Verluste die Nähe zur Natur. MacDonald verlor einen Zwillingsbruder bei der Geburt, fühlte sich später Tieren näher als Gleichaltrigen, die sie für ihre obsessive Tierliebe mobbten. „H wie Habicht“ beschreibt autobiografisch eine weitere Trauerverarbeitung: Eine Universitätsdozentin in Cambridge dressiert einen Habicht, um über den Tod ihres Vaters zu verwinden.

Auch bei Schalansky spielt der Verlust ihres leiblichen Vaters eine Rolle. Wichtiger ist für sie das „grundsätzliche Gefühl der Zugehörigkeit“, das sie in der Natur findet: die Erkenntnis, dass diese Welt so erstaunlich, schön und seltsam sei – „so viel seltsamer als man selbst.“ Wer könne sich schon vorstellen, einer Spezies mit Zehntausenden Geschlechter anzugehören? Pilze leben so.

Der von Scheck eingebrachten Kleistschen Idee mag Schalansky daher nur halb folgen. Warum auf der Suche nach dem Paradies um die Welt reisen? „Das größte Abenteuer lauert in der Straße, in der wir aufgewachsen sind – etwas, das wir die ganze Zeit übersehen.“ Wie sich das auch auf die sprachliche Ebene zurückführen lässt, zeigt Schalansky mit der von ihr gelesenen Passage aus „Schwankende Kanarien“, einem Essay aus dem Jahr 2023. Um Frühwarnsysteme geht es darin, konkrete und metaphorische. Zu Letzteren gehört der im Englischen sprichwörtliche „Kanarienvogel im Bergwerk“: Bergwerksleute im 19. Jahrhundert nahmen Kanarien mit unter Tage. Weil ihnen im Falle von Sauerstoffmangel 20 Minuten vor den Menschen die Luft ausging.

Sind Schreibende die Kanarien unserer Tage? Schecks Frage blieb ohne eindeutige Antwort. Aber Helen MacDonald berichtet am Ende von einer eigenen Erfahrung. Auf einem Atoll bei Hawaii wurde der Käfigvogel ausgesetzt. Die Freiheit bekommt ihm gut. Die Vögel vermehren sich. Sie werden wieder grün.