Von Gorbatschow bis zum Ukrainekrieg: Wenn niemand mehr an irgendetwas glaubt

Der Kommunismus ist tot, aber an Kapitalismus und Demokratie glaubt auch niemand mehr – so jedenfalls stellt es sich in Russland seit Mitte der 1990er Jahre dar. „Nach zehn Jahren ist ‘Demokratie’ zu einer Art Schimpfwort geworden. Sie können jemanden beleidigen, indem sie ihn einen Demokraten nennen“, sagte der populäre russische TV-Journalist Jewgeni Kisseljow im Jahr 2000 bei der Wahl von Putin in einem Interview mit der BBC.

Der britische Dokumentarfilmer und BBC-Journalist Adam Curtis zeigt diese und andere, ähnlich bedrückende Orginalaufnahmen aus dem Russland der späten 1980er und 1990er Jahre in seiner neuen siebenteiligen Dokumentation „TraumaZone“, die Mitte Oktober auf dem BBC IPlayer veröffentlicht wurde und jetzt auch auf Youtube zu sehen ist. Die Serie rekonstruiert den Untergang der Sowjetunion und den deprimierenden Zerfall der russischen Gesellschaft – versehen mit dem passenden Untertitel „Wie es sich anfühlte, den Untergang von Kommunismus und Demokratie zu erleben“.

Unmissverständlich liefert Curtis’ Erzählung auch eine Theorie für den Aufstieg von Wladimir Putin, der am Ende der Reihe nicht als Ursache, sondern als Wirkung eines tieferliegenden gesellschaftlichen Zusammenbruchs erscheint. Weder Putin noch die Oligarchen, die ihn einst installierten, um die inneren Machtkämpfe in Russland mit einer Grabesruhe zu befrieden, sind in „TraumaZone“ wirklich Herr im eigenen Haus. Stattdessen sind sie die Auswirkungen eines kollektiven Traumas, dem Leben in „einer beschissenen Gesellschaft“, wie der Macher es ausnahmsweise unbritisch ausdrückt.

Curtis hat sich in den USA und Großbritannien inzwischen einen regelrechten Kultstatus damit erarbeitet, beharrlich die Frage nach dem Zustand von Gesellschaften als Ganzes aufzuwerfen. Dabei kommt seine These ohne Erzählerstimme aus dem Off aus, ihr Beleg ist das Videomaterial selbst: Filmschnipsel aus der Zeit der „schocktherapeutischen“ Einführung des Kapitalismus in den 1990er Jahren, in der die Lebenserwartung in Russland innerhalb kürzester Zeit um sechs Jahre sank, das Bruttoinlandsprodukt um mehr als die Hälfte einbrach und selbst der Moskauer Zoo keine Nahrung mehr für die Tiere hatte.

Barrikaden im Oktober 1993 in Moskau.
Barrikaden im Oktober 1993 in Moskau.
© IMAGO/SNA

Die Serie zeigt Aufnahmen von Parkanlagen, die abgeholzt wurden, weil sich niemand mehr das Heizen leisten konnte und es sowieso keine Brennmaterialien zu kaufen gab; von korrupten Ex-Kommunisten, die Armeewaffen an die russische Mafia verkauften; und von Jugendlichen, die sich prostituierten oder Touristen vergifteten und anschließend ausraubten, weil anders nicht an Geld zu kommen war.

Curtis beschränkt sich darauf, mit Untertiteln den nötigsten Kontext einzustreuen und belässt so die teils brachialen Sequenzen unzusammenhängend und chaotisch wie die Realität, die sie abbilden. So ist ein Dokument entstanden, das sich schon der Form nach der Illusion einer heilen Welt entzieht und jener Art von Journalismus entgegengesetzt ist, der am Ende der Nachrichten versöhnlich Sport und Tierbilder zeigt.

Die Serie lenkt den Blick darauf, wie skrupellos die russischen Volkswirtschaft in den 1990er Jahren von der neu entstandenen Oligarchenklasse ausverkauft wurde und das Land anschließend in einer Reihe von Kriegen entlang ethnisch-nationalistischer Konfliktlinien desintegrierte. Aus Perspektive von Curtis fügt sich der Ukraine-Krieg bruchlos in diese Konflikte und die Geschichte eines untergehenden Imperiums ein, das verzweifelt und gewaltsam versucht, an seiner sich verflüchtigenden Größe festzuhalten.

Unruhen und Straßenkämpfe nach der Auflösung des Parlaments per Dekret durch Präsident Boris Jelzin. Gewaltsame Niederschlagung des Parlaments vom 2.-4. Oktober 1993.
Unruhen und Straßenkämpfe nach der Auflösung des Parlaments per Dekret durch Präsident Boris Jelzin. Gewaltsame Niederschlagung des Parlaments vom 2.-4. Oktober 1993.
© picture alliance / akg-images

Immer wieder erscheint die Möglichkeit einer Rückkehr der Sowjetunion als Gespenst, das die russischen Oligarchen, den notorisch betrunkenen Präsidenten Boris Jelzin und die Nationalisten mit westlicher Unterstützung dazu antreibt, Parlament und Demokratie wortwörtlich abzufackeln und jegliche Opposition im Keim zu ersticken. Die Prioritäten sind klar: Kapitalismus um jeden Preis.

Eine Tankstelle mit Atomwaffen

Nach mehr als einem Jahrzehnt Chaos erscheint Putin als Heilsbringer einer lang ersehnten Stabilität, gezielt gemodelt nach dem Typus westlicher technokratischer Politiker wie Tony Blair, Gerhard Schröder oder Bill Clinton. Doch in Wirklichkeit ändert sich nichts, der Verfall schreitet voran und Russland verwandelt sich in eine reine „Tankstelle mit Atomwaffen“ – während der neue Geldsegen aus Öl und Gas dazu verwendet wird, ein völlig kaputtes System notdürftig durch Korruption zusammenzuhalten.

Curtis deutet im Untergang der Sowjetunion eine umfassendere Orientierungslosigkeit der Moderne insgesamt. „Vielleicht war Russlands Teil von etwas Größerem“, sagt Curtis in einem Interview zur Reihe. Niemand, auch nicht im Westen, habe eine Vorstellung davon, wie eine bessere Zukunft möglich wäre. Entsprechend hätten sich die Versprechen der Politiker über die Lager hinweg in den vergangenen Jahrzehnten umgekehrt. An die Stelle von positiven Programmen seien negative Visionen getreten: das Schlimmste, das man sich je nach politischer Couleur anders vorstellt (Nazis, Klimawandel, sozialer Abstieg, oder Terror), zu verhindern und den Status Quo zu bewahren.

(Zu sehen auf Youtube)

Gesellschaften weltweit zerfallen laut Curtis, weil die Politik an einem prekären Status Quo festhält und keine sinnvolle Orientierung für eine immer noch ersehnte, bessere Gesellschaft gibt. Temporär erkaufte Stabilität im Hier und Jetzt sei wie im Russland der 2000er-Jahre das Rezept für eine umso größere Katastrophe, die dann auch prompt folgte.

Obwohl alle insgeheim wissen, dass das System nicht funktioniert, wird aus Mangel an einer Alternative mehr oder weniger naiv, mehr oder weniger verlogen, mitgespielt – so wie schon kurz vor dem Zusammenbruch in den 1980er Jahren im Ostblock. Curtis selbst gibt nicht vor, Antworten zu haben. Obwohl er oft als Linker missverstanden wird, spricht aus seinen Filmen auch eine Nostalgie nach einer Zeit vor dem Neoliberalismus der späten 1970er und 1980er Jahre, gleichwohl er wisse, dass es kein Zurück geben kann.

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