Vier Jahre für das Abendland
Ohne Pandemie wären unsere elf jungen Journalistinnen und Journalisten der Paralympics Zeitung jetzt eigentlich in Tokio. Von dieser Reise sahen wir zu diesen Spielen ab und sitzen nun in Berlin. Aber sollte es in dieser Stadt nicht auch so etwas wie Japan-Flair geben? Wir haben uns auf die Suche gemacht. Hier unsere Serie „Inside out – Japan in Berlin“. Teil vier: die Mori-Ôgai-Gedenkstätte in Berlin
Die Gedenkstätte portraitiert den japanischen Wissenschaftler und Literaten Mori Ōgai, der sich Zeit seines Lebens für die Gesellschaft engagierte. Die tiefbraune, deckenhohe Holztür wirkt einladend und etwas einschüchternd zugleich. Imposant sticht sie aus der gedämpften Atmosphäre heraus. Japanische Schriftzeichen, gemalt als Ornamente auf der hellgelben Tapete, weisen den Weg hinauf durch den von Stuck verzierten Flur in den zweiten Stock des Eckhauses in der Luisenstraße 39 in Berlin. Freundlich werde ich durch die bereits angelehnte Tür hineingebeten, sofort befinde ich mich inmitten der hellen Ausstellung.
Die weiß getünchten Wände bilden den Kontrast zu den hölzern eingefassten Rahmen und Deckenbalken, die den Eindruck einer Zeitreise in mir zurücklassen. Mich umgibt nun nicht mehr das Berlin des 21. Jahrhunderts mit seinem feinen Nieselregen im August, sondern das Japan von Mori Ōgai. Jenes Japan, welches er in den 1880er Jahren mit in das Wilhelminische Berlin brachte. Sein Zimmer in der Luisenstraße ist die erste Unterkunft des jungen Studenten, der im Zuge der Meiji-Restauration nach Europa geschickt wurde.
Die Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin widmet sich dieser Schlüsselfigur der Modernisierung Japans. Das Zentrum zur Erforschung seines Lebenswerks ist zur Pilgerstätte für die zahlreichen Japanerinnen und Japaner geworden, die auf den Spuren des wichtigen Intellektuellen reisen.
Mori-Ōgai war Mediziner, Philosoph, erfolgreicher Literat, Dozent für Ästhetik und plastische Anatomie sowie Übersetzter. Als führender Intellektueller der Moderne war er bekannt. Seine Übersetzungen von „Faust“, Ibsens „Nora oder Ein Puppenheim“ und weiterer bekannter Werke wurden in seiner Heimat erfolgreich angenommen und dort in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern veröffentlicht.
Japan wendet sich dem Westen zu
Nora Bartels, Referentin für Bildungsarbeit, öffnet eine Vitrine und nimmt einige der dort ausgestellten Bücher heraus. Sie sind Teile der neuen Ausstellung „Morgensonnenland“, in der das Team der Gedenkstätte unter anderem die allgemeinen Begegnungen zwischen Ostasien und Europa darstellt. Die Bände, geschmückt von goldfarbenen Mustern und kalligraphischen Titeln, zeigen mir Eindrücke aus einem vergangenen Japan. Per Hand kolorierte Originalfotos bilden Familien ab, die glasklare Haut und leicht rosafarbenen Wangen geben den Portraits eine Zärtlichkeit, die mir das Gefühl vermittelt, direkt in die Geschichten hinter den Gesichtern abtauchen zu können.
„200 Jahre lang war das Land vom Westen abgeschlossen“, erzählt mir Bartels. Nach einem Rundgang durch die Ausstellung profitiere ich von ihrem breiten Wissen. Wir sprechen über das Leben Ōgais und die Veränderungen in Japan zur Jahrhundertwende. Ich werde in den Bann gezogen von dieser neuen Welt, die sich mir eröffnet.
„1853 gab es eine Erzwingung der Öffnung des Landes“., weiß Bartels Der Impuls zu einem von oben herab ausgeführten Umschwung wurde ausgelöst durch den amerikanischen General Perry, der mit seinen „Schwarzen Schiffen“ nahe dem heutigen Tokio ankerte und die Öffnung des Landes gegenüber dem Westen erzwang. 1868, nach einer 700-jährigen Militärherrschaft, fand die Restauration der kaiserlichen Regierungsgewalt statt; die Armee wird daraufhin gebildet. Zu der Zeit gab es in Japan einen „großen technischen Rückstand im Vergleich zu den westlichen Ländern, aber es gab auch schon eine sehr lange Tradition geistiger Tätigkeit“. Konzepte der Staatsführung wurden überdacht, Initiativen mussten ergriffen werden, um sich davor zu retten, kolonialisiert zu werden. „Ganz systematisch wurde geguckt, wie man möglichst schnell möglichst viel westliches Wissen importieren kann“, erklärt Bartels. Alle Bereiche des Lebens sollten neu überdacht werden: Werte, Normen, Traditionen, Kultur, Hausbau, Wissenschaft, Ernährung und jeder andere erdenkliche Bereich von gesellschaftlicher Relevanz wurden hinterfragt. „Eine der wirkungsvollsten Sachen war zu eruieren, in welchem Land was davon am fortschrittlichsten war.“ So wurden sowohl Experten und Expertinnen aus dem Ausland nach Japan geholt als auch „einige ihrer fähigsten Leute in die Länder geschickt, in denen es am vielversprechendsten war, das neue Wissen zu bekommen“.
Ein kluger Kopf für die Gesellschaft
Mori Ōgai war eines dieser Talente, das – wenn auch über einen unkonventionelleren Weg – so nach Deutschland gekommen ist. Ōgai, der „blitzgescheite“ Sohn einer Samurai-Familie, kommt aus einem Medizinerumfeld, in dem viel Wert auf die klassisch ostasiatische Bildung gelegt wurde. Sein Interesse für Literatur, Sprachen und die Wissenschaft wurde ihm in die Wiege gelegt. Durch das Fälschen seines Geburtsdatums war er später dann zwar sehr schnell und jung mit seinem Medizinstudium in Tokio fertig, allerdings war er „nur der Achtbeste“. Das reichte für ein Stipendium des Kultusministeriums nicht aus, für Ōgai war aber klar, dass er nach seinem Abschluss in den Westen reisen wolle, an die Orte, aus denen die moderne Medizin stamme. Ein Alternativplan musste her: „Er ist dann in den medizinischen Korps der japanischen Armee eingetreten und nach drei Jahren wurde ihm gewährt, dass er nach Deutschland gehen darf“, sagt Bartels. Das Studium nannte sich fortan „Heeressanitätswesen“, er reiste von Franz Hofmann in Leipzig über Max von Pettenkofer in München bis zu Robert Koch in Berlin. Unter seiner Obhut forschte er zu Bakterien und veröffentlichte seine Ergebnisse in einschlägigen wissenschaftlichen Magazinen.
Sein unbändiges Interesse und der Wille, die Gesellschaft ein Stück weit zu verbessern und den Menschen Gutes zu tun, sofern es ihm möglich war, treiben ihn dazu an, sich beim Japanischen Roten Kreuz für die Behandlung von Kriegsverletzten einzusetzen. Aufgrund seines schnellen Aufstiegs zum obersten Militärarzt, war er hauptsächlich für strategische Fragen verantwortlich. Für ihn war es wichtig, dass – egal aus welcher Nation – die Verletzten eine humane Behandlung bekämen. Für sein endloses Engagement erhielt er Auszeichnungen und war noch lange nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst in verschiedenen Ausschüssen und Komitees aktiv.
Ōgai setzte die Typhus-Impfung bei allen Soldaten durch
Im Bibliothekszimmer der Gedenkstätte reichen die gefüllten Regale bis an die hohen Decken. Viele bunte Bände, zusammengehörige Bücher farblich passend nebeneinander gereiht, demonstrieren die Menge an deutscher und japanischer Literatur, die Ōgai nicht nur selbst neben all seiner Studien verschlungen, sondern auch verfasst hat. „Die Literatur hat etwas Ewiges, die Naturwissenschaft ist vergänglich.“ Nora Bartels spricht davon, dass er in erster Linie für seine Werke und Übersetzungen bekannt ist. Meilensteine setzte er, wie mit dem Schreiben des ersten modernen japanischen Romans, seiner Berliner Novelle „Das Ballettmädchen“.
Außerdem setzte er die Typhus-Impfung bei allen Soldaten durch, „ein sehr aktuelles Thema“.
Mein Besuch in der Gedenkstätte neigt sich dem Ende zu. Ich bin fasziniert von den detailreichen Erzählungen Bartels, dem Schaffen und Wirken Ōgais und dem Einblick in diesen kleinen Fleck Japan inmitten des Berliner Zentrums.
Es ist die Selbstlosigkeit dieses Japaners, die mich fesselt. Seine Ziele, „Wissenschaft und Zivilisation voranzubringen“. Er hatte diese unstillbare Neugier, die ihn antrieb und der auch wir alle von Zeit zu Zeit einmal wieder nachgehen sollten.
Teil eins: Kalligrafiekurs am Japanisch-Deutschen Zentrum in Dahlem; Teil zwei: Katzencafé in Neukölln; Teil drei: Zen-Meditation im Akazienzendo. Alle Texte sind Teil der diesjährigen Paralympics Zeitung. Eine Übersicht finden Sie in unserer Digitalen Serie.