Stiefel der Vergangenheit

Der Autor Ilko Sascha-Kowalczuk ist Historiker. 2019 erschien sein Buch „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde.“ im C.H. Beck Verlag.

Als ich den „Jahrhundertschritt“ von Wolfgang Mattheuer erstmals sah, im Herbst 1987 in Dresden, war ich wie vom Schlag getroffen. Wenn ich mich richtig erinnere, stand diese kopflose Figur ohne Farbanstrich in einem Raum der Kunstausstellung, nichts weiter, nur dieser ausgestreckte deutsche Gruß, die Rot-Front-Faust, der Soldatenfuß und das Bein, das ich für mich sofort als Häftlingsbein identifizierte. Heimlich versuchte ich, die Fußstellung nachzuahmen – es ging nicht, ich fiel um.

Kaum ein anderes Kunstwerk hat mich je so gefesselt. In Dresden stand ich 1987 davor und mein Schmerz kam sofort hoch: Meine Gegenwart hat nicht mal eine Zukunft, geschweige denn eine erzählte Vergangenheit. Und hier stand nun der große „weiße Fleck“, die Geschichte, mitten in einem offiziellen DDR-Raum, das 20. Jahrhundert Deutschlands, verdichtet in einer Figur, die ihren Kopf nicht rauszustrecken wagt, vielleicht auch einfach hinterhältig ist und deshalb schaut, wie sie schaut.

Was war mit dieser DDR los, so etwas öffentlich zu zeigen? Ich hatte schon mehrfach gegrübelt, etwa bei Franz Fühmanns „Saiäns Fiktschen“, ob die Zensoren besoffen ihren Einsatz verpasst hatten.

Die Skulptur kommentiert Kommunismus und Nationalsozialismus

Die subversive Waffe Buch ist bekannt, aber sie wird von Diktatoren oft überschätzt, denn man liest fast immer allein – hier aber stand ich inmitten einer brodelnden Menschenmenge, die genauso fassungslos staunte wie ich; ich bin mir nicht sicher, ob aus den gleichen Gründen. Wahrscheinlich nicht, nicht wenige waren entgeistert, dass hier Kommunismus und Nationalsozialismus in einem Abwasch verhandelt wurden, ihre Ablehnung war zu spüren; entgeisterte Zustimmung nicht minder.

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Und doch schmerzte es mich: Alles schien interessanter zu sein als die trostlose Gegenwart. Zwei Jahre später fand ich mich in einer spannenden Gegenwart wieder. Nun schaute nicht nur ich entgeistert auf die Straßen und Plätze, in die Kirchen, Theater und in die Medien. War das noch die Gesellschaft, die ich bis eben nicht verstanden hatte? Die irgendwie immer zu singen schien, „Guten Tag, ich heiße Schmidt, und ich mache alles mit“.

Der „Jahrhundertschritt“ hatte sich bewegt – und ich war bei diesem echten Jahrhundertschritt dabei, weg von Faschismus und Kommunismus, den großen totalitären Versuchungen des 20. Jahrhunderts. Der „Jahrhundertschritt“ beendete das kurze, aber mörderische Jahrhundert des Totalitarismus. Er brach zusammen, weil er sich bewegte.

Die Gegenwart war lebendig geworden

Matthäuers Kunstwerk geriet aus meinem Blickfeld. Die Gegenwart war so lebendig geworden, dass sie eine Zukunft bekam – und am spannendsten waren für mich die Vergangenheitsdebatten. Ende September 1999 ist ein Abdruck des Jahrhundertschritts in Leipzig vor dem Zeitgeschichtlichen Forum aufgestellt worden. Ich hatte häufiger dort zu tun und freute mich, erinnert zu werden. In den Jahren seit der Revolution hatte ich das provozierende Kunstwerk nicht mehr erinnert.

Nun stand es in Leipzig mitten in der Innenstadt. Erst allmählich erkannte ich, dass die Provokation geblieben war, nur hatte ich sie nicht mehr als solche wahrgenommen. Mit der siegreichen Revolution von 1989 schien alles gut zu werden. Für mich ging es um Freiheit, Freiheit, Freiheit – und sonst gar nichts. Und die war nun da. Leben musste ich sie schon allein. Ich war jung und konnte starten. Es lief. Nicht so, wie ich es erträumte, nicht so, wie ich es wollte, nichts so, wie ich dachte, aber es lief – für mich.

Dort, wo ich wohnte in Berlin, gab es Straßen, in die ich nachts nicht ging. Bald gab es „national befreite Zonen“ in ganz Ostdeutschland. Auch heute noch würde ich People of Colour nicht raten, in Ostdeutschland Urlaub zu machen, zu arbeiten, zu leben, zu wohnen.

Freiheit war das Wichtigste

Die alte ostdeutsche Machtpartei durchlief mehrere Häutungsprozesse. In den 1990er Jahren war nicht zu erahnen, dass dabei mal etwas herauskommt, das sich so deutlich vom Ursprung unterscheidet. Und es war auch nicht vorherzusehen, dass die Wurzeln immer noch so vital sind, in dieser gewendeten Partei.

Vieles veränderte sich, manches zu schnell, anderes viel zu langsam. Menschen können nur ein gewisses Maß an Änderungen in einer bestimmten Zeit verkraften. Überforderung führt zu Entmutigung, Verzweiflung und Wut. Im Osten waren viele seit 1990 überfordert. Es waren die nicht-materiellen Dinge, die sie überforderten. Nicht ein Arbeitsplatz, eine berufliche Position ist unersetzbar. Aber kulturelle Positionen unwiederbringlich zu verlieren, erzeugt Phantomschmerzen.

Warum aber wurden sozial- kulturelle Erfahrungen entwertet? Weil sie im Prozess des Othering, der Normabweichung von der gesetzten Norm, wertlos, hinderlich, blockierend erschienen. Ostdeutschland und Ostdeutsche erschienen urplötzlich als homogene Blöcke, die sie weder vor noch nach 1989 waren. „Urplötzlich“ war dies natürlich niemandem bewusst.

Erst als Wut und Frust sich nicht legten, als sie auf die nächste Generation übertragen wurden und antidemokratische politische Einstellungen in die Mitte der ostdeutschen Gesellschaft vorrückten, wurde auch mir klar, das die überwunden geglaubte Vergangenheit gar nicht vergangen war, sondern höchst lebendig in den öffentlichen Diskursen waberte.

Der „Jahrhundertschritt“ ist nicht vergangen. Wir leben in seinem Angesicht. Passen wir nicht auf, kommen wir unter den Stiefel. Oder sind selbst der Stiefel. Oder die Faust. Verhindern, gerade in Ostdeutschland, geht es nur mit Köpfen, die sich bekennen.