So war das Jubiläumskonzert von Ton Steine Scherben
Fußballbegeistert waren sie bei Ton Stein Scherben schon immer. Jeden Tag kickte die Band in Ihren Anfangsjahren, erzählte Flötist Jörg Schlotterer einmal dem Magazin „11 Freunde“. In der gemeinsamen Wohngemeinschaft am Tempelhofer Ufer 32 in Kreuzberg kochte man Anfang der 1970er Jahre sogar so zeitig, dass zum Anpfiff der Fernsehübertragung das Essen auf dem Tisch stand. Nur Sänger Rio Reiser empfand das als befremdlich. Er las lieber. Als die Fußballlegende Paul Breitner einmal unangemeldet zu Besuch kam, verschlief der Frontmann das Ereignis.
Ihm hätte es also vermutlich nichts ausgemacht, dass das Jubiläumskonzert von Ton Steine Scherben auf den Abend des Eröffnungsspiels der Europameisterschaft fällt. Sowohl die Feierlichkeiten als auch das Turnier mussten pandemiebedingt um ein Jahr verschoben werden. 2020 wäre der viel zu früh verstorbene Rio Reiser 70 Jahre alt geworden und Ton Steine Scherben hätten ihr 50-jähriges Bandjubiläum begangen. Nun findet die Veranstaltungsreihe „Wenn die Nacht am tiefsten – ein Scherben Festival“ in diesem Sommer statt.
Der Open-Air-Auftritt am Freitag ist dabei nicht nur der Höhepunkt des Programms, sondern für viele im Publikum eines der ersten Livekonzerte nach dem kulturellen Lockdown. Was für ein Bild: Menschen, die mit Bier dicht beieinander auf dem Rasen sitzen. Kinder, die in der Spree planschen. Antifakids und Althippies Seit an Seit. Über allem wabert der süße Geruch von Marihuana. So fühlt sich Open Air in Berlin also an. All das vor einer wahrlich bezaubernden Szenerie für ein Konzert. Instrumente und Verstärker sind auf dem Dach eines Ausflugdampfers im Hafen Rummelsburg aufgebaut. 2012 entstand dieser Ort vor dem Funkhaus Nalepastraße – in jenem Jahr als der Rest der Scherben beschloss, wieder zusammen zu musizieren.
Manche Lieder sind so aktuell wie vor einem halben Jahrhundert
„Das ist eine sehr alte und bekannte Band“, versucht ein Vater seinem Kind die Faszination noch zu erklären, da ist Rio plötzlich doch da. Unvermittelt ertönt seine rotzig-raue Stimme aus den Lautsprechern. „Weit, weit, weit von hier“. Und man möchte jetzt schon heulen. Im gleißenden Gegenlicht der untergehenden Sonne betreten die Musiker das Deck und stimmen „Mein Name ist Mensch“ vom ersten Album „Warum geht es mir so dreckig?“ an.
An diesem Abend stehen Bandmitglieder der frühen Jahre wie Bassist Kai Sichtermann, Perkussionist Funky K. Götzner, der ehemalige Manager Nikel Pallat, Flötist Jörg Schlotterer, Sängerin Angie Olbrich oder Pianist Martin Paul ebenso auf der Bühne wie zahlreiche Gesangsgäste. Darunter der Schauspieler Milan Peschel, die Singer-Songwriterin Maike Rosa Vogel und der Liedermacher Stoppok. Letzterer darf dann auch Klassiker wie „Die letzte Schlacht“ und „Mensch Meier“ intonieren – versehen mit einem vorweggeschickten Disclaimer. Man habe sich bewusst dafür entschieden, die Originalversionen zu singen, auch wenn sich seit 1971 manches geändert habe. Umso inbrünstiger schmettert Stoppok anschließend Zeilen wie „Nee, nee, nee, eher brennt die BVG!“ oder „Aus dem Weg, Kapitalisten, die letzte Schlacht gewinnen wir!“. Trotz verkürzter Kapitalismuskritik funktionieren die Songs live immer noch hervorragend.
Andere Lieder hingegen sind so aktuell wie vor einem halben Jahrhundert. Die Mietsituation sei sogar „noch beschissener“, stellt Pallat ernüchtert fest. Der Kampf um Wohnraum und gegen soziale Ungleichheit und Verdrängung hat auch nach Jahrzehnten kein Ende gefunden. Und so wird kurzerhand der Refrain des „Rauch-Haus-Songs“ umgedichtet: „Das ist unser Haus – Scheiß auf die Rendite, unsere Miete reicht nicht aus“. „Wir wollen in unserer Wohnung bleiben“, ein neues Scherben-Lied zur Thematik, das auch dargeboten wird, entwickelt vor dem Hintergrund der vergangenen Monate eine unfreiwillige Komik.
„Mehr Power!“ fordert eine erboste Zuschauerin lautstark
„Mehr Power!“ fordert eine erboste Zuschauerin lautstark zwischen zwei Balladen und erntet ein mildes Lächeln von den Männern mit grauen Haaren auf der Bühne. Denn natürlich können sie es noch. Spätestens bei „Wir müssen hier raus!“ und „Der Turm stürzt ein“ löst sich die bestuhlte (was für ein Affront für Fans der ersten Stunde!) Sitzordnung auf. Das Publikum strömt nach vorne, tanzt und singt lauthals mit. Hausboote nähern sich der Bühne von hinten, auch auf ihren Dächern hüpfen Menschen auf und ab. Beinahe jedes Lied vom Album „Keine Macht für Niemand“ spielt die Band. Und sie zünden alle.
Nach etwas mehr als zwei Stunden steht auf der Setlist als Abschluss das hoffnungsvoll-kämpferische Lied „Der Traum ist aus“. Das Konzert ist es hingegen noch nicht ganz. Erwidert aus hunderten von Kehlen stimmen als Zugabe alle Beteiligten des Abends „Junimond“ an. Auch wenn dieser sich um 21.40 Uhr noch nicht über der Spree blicken lassen will. Ein gehauchtes „Danke Rio“ in Richtung Alter St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg, wo der Sänger seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Dann bleiben hunderte Konzertgänger mit einem seeligen Lächeln zurück.
Früher besetzten Ton Stein Scherben mit Fans nach ihren Konzerten noch Häuser in der Umgebung des Veranstaltungsortes. An diesem lauen Sommerabend ist wenigstens noch der Getränkestand für ein letztes Glas vor dem Heimweg besetzt. Und vielleicht haben es die verbliebenen Bandmitglieder ja tatsächlich noch zur zweiten Halbzeit des EM-Eröffnungsspiels geschafft. Verdient hätten sie es sich allemal.
Ein weiteres Jubiläumskonzert findet am Samstag, 13.06. im SO 36 statt. Die Veranstaltung ist ausverkauft, es gibt aber einen Livestream.