Raus aus der Hotline
Filme über Verlierer guckt man schon deshalb gerne, weil in einem selber ja irgendwie auch ein Loser steckt. Wer meistert schon alle Lebenslagen? Und je dreckiger es den Filmhelden geht, je größer deren Diskrepanz zwischen Realität und Schönfärberei, desto eher stellt sich der tröstende Gedanke ein, dass es um die eigene Existenz vielleicht doch nicht so schlimm bestellt ist.
Ein Grundprinzip, dem viele Komödien des französischen Regie-Duos Benoît Delépine und Gustave Kervern folgen. Das schnöde Dasein mit all seinen Erbärmlichkeiten ist ihr Terrain. Unvergessen das Roadmovie „Mammuth“ von 2010 mit Gerard Depardieu als bulligem, frisch verrentetem Schlachter, einem der schrägsten Berlinale-Wettbewerbsfilme seit Erfindung des Goldenen Bären.
Diesmal brechen die beiden eine Lanze für die Opfer des digitalen Zeitalters. Sind wir ja schließlich auch irgendwie alle, man denke nur an die Hotline-Warteschleifen, Abo-Vertragsfallen, Versicherungsabzocke und heillos verhedderten Aufladekabel, die einem regelmäßig den letzten Nerv kosten. Oder an die zeitraubende Homo-Sapiens-Authentifizierung mittels dieser blöden Bilderkennung von Ampeln oder Zebrastreifen.
„Online für Anfänger“, 2020 auf der Berlinale uraufgeführt, versammelt drei solcher Opfer in einer französischen Provinzstadt. Die arbeitslose Marie (Blanche Gardin), die von ihrem Mann verlassen wurde, verkauft in der Not ihr Mobiliar übers Internet. Ihr verwöhnter halbwüchsiger Nerd von Sohn will nichts von ihr wissen, trotzdem fürchtet sie um ihren Ruf bei ihrem Sprössling, als die permanent Selbstgespräche führende Einsiedlerin nach einem hochalkoholisierten One- Night-Stand per Sexvideo erpresst wird.
Alle so depressiv hier: Auch Michel Houellebecq hat einen Kurzauftritt
Der hochverschuldete Bertrand wiederum (Denis Podalydès) weiß seiner in der Schule cybergemobbten Tochter nur durch hilflos-handfestes Eingreifen zur Seite zu springen und geht obendrein einer süßen Callcenter-Stimme auf den Leim. Auch Christine (Corinne Masiero) bekommt kein Bein auf die Erde: Ihr Ehemann verließ sie wegen ihrer Seriensucht, und als Fahrerin bei einem Vip-Limousinen-Service bekommt sie von den Kunden nur schlechte Online-Bewertungen.
Die drei kennen sich vom Rond-point aus ihrer Gelbwesten-Zeit, was dem Film einige vergnügliche Szenen rund um den Kreisverkehr beschert. Die alte Wirkstätte dient als Treffpunkt für neue Protestaktionen. Ansonsten leidet „Online für Anfänger“ unter der überdeutlich exerzierten Langsamkeit der Erzählung. Komik ist eine Frage des Timings, in der Überdehnung drohen Lakonie, ausgestellte Hässlichkeit und Ödnis zum Selbstzweck zu verkommen.
[Ab Donnerstag, den 28.10., in sieben Berliner Kinos. OmU: Fsk, Kino in der Kulturbrauerei, Passage, Sputnik]
Alle so depressiv hier: Wenn niemand Geringeres als Michel Houellebecq Bertrand dessen alten Diesel abkauft, um dank hohem CO2-Ausstoß seinen Suizidplan realisieren zu können, ist das ein herrlich böser Sidekick. Aber als das Trio schließlich ein Rachekomplott schmiedet und den Algorithmus-Giganten mit Hilfe eines im Windrad hausenden Hackers den finalen Kampf ansagt, machen sie ihrem Image als Volltrottel dann doch zu sehr die Ehre. Allen Occupy-Masken zum Trotz.
Auf nach Silicon Valley: Marie wird im Google-Rechenzentrum in San Francisco gleich wieder zum Sexvideo-Objekt, Christine rückt den halbautomatisierten Online-Bewertern mit der Kettensäge zu Leibe. Und als Bertrand im fernen Mauritius ins Herz der Shoppingportale vorstößt, trifft er dort auch nur einen Rechner an. Ach ja.
Stimmt schon, die sozialen Medien schützen nicht gegen Einsamkeit. Und die Menschheit, die das Internet einst als Instrument der grenzenlosen Freiheit begrüßt hat, ist inzwischen zu seiner Geisel geworden. Aber offene Türen einrennen, das taugt auf die Dauer nicht zum Running Gag. Dafür entschädigen überlebenspraktische Hinweise wie jene Szene, in der Marie an der Innenwand ihres Kühlschranks ein Passwort nachschaut. Wo haben Sie denn Ihre Passwörter versteckt?