Der Krieg zuhause
Schwestern, Brüder, Mütter, Väter. Irgendwann blickt auch die Theaterleiterin nicht mehr durch. „Das Stück ist ein einziges Chaos“, meint sie zur Regisseurin Zorah, gespielt von Isabelle Adjani, in einem Krisengespräch. Die Geschichte habe zu viele Ebenen, Zorah solle die Inszenierung straffen. Man muss der französischen Regisseurin Yamina Benguigui zugutehalten, dass sie aus der Ironie dieser Szene keinen Hehl macht.
Ihr zweiter Spielfilm „Schwestern – Eine Familiengeschichte“ trägt ebenfalls schwer an der Ambition seiner Regisseurin, eine sehr komplizierte Geschichte um kulturelle Identität und Familie – und die Fragen, die sich daraus ergeben – angemessen komplex zu rekonstruieren. Benguigui erzählt dabei mehr als eine Familiengeschichte, wie der deutsche Titel suggeriert; ihr Film handelt von zwei Frauengenerationen und der Auseinandersetzung mit ihrer algerischen Herkunft.
Zorah, die älteste der drei titelgebenden Schwestern, ist am ehesten bereit, sich mit schmerzvollen Fragen zu beschäftigen. Das Problemkind, die jüngste Norah, spielt die Regisseurin Maïwenn, die in ihrem Film „ADN“ zuletzt ebenfalls ihre algerische Familiengeschichte befragte. Norah hat gerade wieder ihren Job verloren und ist aus Mangel an Geld und Perspektiven gezwungen, bei Mutter Leïla (Fattouma Ousliha Bouamari) einzuziehen. Ihr Groll belastet das Wiedersehen, sie gibt der Mutter die Schuld an ihrer Misere, weil die sich vor Jahrzehnten scheiden ließ. Damit deutet Benguigui früh den Konflikt an, um den sich „Schwestern“ – und das Theaterstück Zorahs – dreht.
Dass Zorah ihre traumatische Familiengeschichte in aller Öffentlichkeit aufarbeiten möchte, sorgt für das nächste Konfliktpotential zwischen Mutter und Schwestern. Djamila (Rachida Brakni) will von der Vergangenheit, die ihrer politischen Karriere im Rathaus nur im Wege stehen würde, nichts wissen. Dank der Geschichte der Eltern, die im Unabhängigkeitskrieg gegen die Kolonialmacht gekämpft haben und später nach Frankreich emigrierten, ist sie eine „Bilderbuchmigrantin“ mit einer großen politischen Zukunft. Darüber, dass der Vater seinen kleinen Sohn später gegen den Willen Leïlas mit Norah zurück in die algerische Heimat verschleppte, schweigen sich die Schwestern seit dreißig Jahren aus. Der verschollene Redah verkörpert die Leerstelle der Familie, eine Wunde, die das Theaterstück wieder aufreißt.
Zwischen Krieg und Theaterproben
Benguigui wendet in der Rekonstruktion dieser Familiengeschichte einen interessanten Verfremdungseffekt an, indem sie Rückblenden und Theaterproben miteinander verwebt – so weit, dass Zorah, Djamila und Norah im Kindesalter von den selben Darstellerinnen gespielt werden wie die Schwestern-Figuren in der Inszenierung. Zohras Tochter Farah (Hafsia Herzi) wiederum übernimmt die Rolle ihrer Großmutter Leïla.
Die Gewalt, die der jähzornige Vater seiner Familie antut, blendet zwischen den Erlebnissen im Krieg und den mitunter verstörenden Bühnenproben hin und her. So ähnelt die Struktur von „Schwestern“ einem Puzzle, Benguigui spielt mit der Orientierungslosigkeit des Publikums. „Ich weiß nie, wen du gerade ansiehst, mich oder deinen Vater“, beschwert sich auch der Vater-Darsteller (Rachid Djaidani) einmal bei Zorah.
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Dramaturgisch bringen die Meta-Ebenen Probleme mit sich, die erst im dritten Akt in eine klarere Struktur münden – wieder allerdings mit einem Drehbuch-Stunt. Der Schlaganfall des Vaters zwingt die drei Schwestern zu einer Reise in die Heimat, wo die unterschwelligen Themen des Films zu offenen, auch handgreiflichen Konflikten führen. Im Fahrstuhl des Krankenhauses gehen sich Djamila und Norah fast an die Gurgel, der Streit dreht sich oberflächlich um Lebensansichten, eigentlich aber um kulturelle Assimilation: Djamila wirft Norah ihre französische Bohème-Existenz vor. Mehr von diesem Feuer würde dem Film gut tun. Später wiederum macht sich eine algerische Cousine über die Schwestern lustig, die sich nach über dreißig Jahren für ihre Herkunft zu interessieren beginnen.
Mit der Reise nach Algerien schließt sich für Benguigui ein Kreis. Die Regisseurin ging vor über zehn Jahren, wie ihre Figur Djamila, in die Politik; sie war Vize-Bürgermeisterin von Paris und vertrat im Außenministerium Französinnen und Franzosen in der Diaspora (ein Relikt der Kolonialherrschaft). In Algier kommen Zorah, Norah und Djamila mit den Straßenprotesten gegen den Präsidenten Abdelaziz Bouteflika in Kontakt, die Frauen kämpfen für dieselben Rechte wie fünfzig Jahre zuvor ihre Mutter. Politik ist für das algerische Volk existenzieller als für die Karrieristin Djamila.
Es ist nicht die einzige kulturelle Asymmetrie, die Yamina Benguigui bloß legt. In der Welle von Culture-Clash-Komödien aus Frankreich ist „Schwestern“ tatsächlich eine wohltuend ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema der nationalen Identität, noch dazu mit den besten algerischstämmigen Darstellerinnen im französischen Kino. Versöhnliche Angebote a la „Monsieur Claude und seine Töchter“ macht Benguigui nicht. Man muss „Schwestern“, über dreißig Jahre nach der Blütezeit des Cinéma Beur, eher als erneuten Versuch für eine gemeinsame Gesprächsgrundlage verstehen. (Im Berliner Kino Passage)