„Mies hat noch viel von Hand gemacht“
Mr. Chipperfield, ist die Neue Nationalgalerie nach der Renovierung schöner denn je?
Wir hoffen, dass sie so schön sein wird wie immer schon. Wir wollten den Mies-van-der-Rohe-Bau vor allem wiederherstellen. Ich denke, niemand wird große Änderungen entdecken, abgesehen von Modifikationen, die seit der Eröffnung 1968 gemacht wurden.
Hat sich Ihre Beziehung zu Mies van der Rohe geändert im Laufe der Sanierung?
Nein, die besondere Nähe zu Mies hat zwar Erkenntnisse über Fehler und Schwächen seines Baus zutage befördert, die vorher unbekannt waren. Aber das konnte meine Bewunderung für ihn nicht schmälern. Ich war eher erstaunt, wie miserabel die Qualität der Konstruktion – abgesehen vom Stahl – etwa beim Beton war. Nur sagt dies mehr über die Bedingungen des Bauens in der Nachkriegszeit Berlins aus als über die architektonische Qualität. Es ist genau umgekehrt: Mies van der Rohe konnte trotz dieser technischen Schwierigkeiten erstaunlich gut seine Vorstellungen umsetzen.
Gab es besondere Überraschungen im Laufe der Arbeiten?
Mies war überzeugt, dass eine neue Architektur durch neue Technologien möglich ist. Er glaubte an diesen Transfer, er ist Teil seiner architektonischen Poesie. Aber als wir das Gebäude in seine Teile zerlegten, die Ästhetik entfernt hatten, waren wir vor allem im Kellergeschoss erstaunt über die schlechte Bauweise. Das galt auch für die Decke, die erneuert werden musste. Sie war mit einer Technologie aus den Vereinigten Staaten installiert worden, neue Maschinen ermöglichten hier eine neue Methode der Anbringung. Trotzdem war es für uns erstaunlich zu entdecken, wie viel immer noch von Hand gemacht war. Einzelne Holzteile waren mit Draht zusammengefügt, auf den Balken entdeckten wir mit dem Bleistift notierte Instruktionen. Mies hatte sich offensichtlich alle Mühe gegeben, den Bau hochtechnologisch aussehen zu lassen. Aber das war er gar nicht.
Werden diese Entdeckungen irgendwo sichtbar sein oder erlebt der Besucher wieder den perfekten Raum?
Nein, wir haben diese verborgenen Improvisierungen nicht konserviert, auch wenn sie interessant sind. Uns ging es um das Erscheinungsbild des Gebäudes als Beispiel seiner Zeit. Es ist einfacher, ein Gebäude des 19. Jahrhunderts zu renovieren durch die zeitliche Distanz als eines der späten 1960er Jahre, bei dem immer wieder ästhetische Entscheidungen getroffen werden müssen. Als Mies van der Rohe die Decke der Nationalgalerie entwarf, war sie eine Neuheit. Danach setzte sich dieses System als Standard durch für Bürobauten in den Vereinigten Staaten und Europa. Sollte man sie deshalb ersetzen, nur weil wir heute eine andere Sicht darauf haben?
Sie haben so viel Mies wie möglich zurückgebracht – nicht immer zur Freude der heutigen Nutzer. So waren die Museumsleute zunächst nicht froh mit dem Teppich im Erdgeschoss. Warum waren Sie da weniger kompromissbereit als bei der Raufasertapete, die weggelassen werden durfte?
Es gab viele Diskussionen, eigentlich über alles: den Teppich, die Decke und andere Aspekte der Inneneinrichtung, ebenso bei der Fassade und Klimatechnik. Entwirft man ein vollkommen neues Gebäude, werden diese Fragen vor Baubeginn gebündelt geklärt. Bei einer Renovierung aber müssen permanent Einzelentscheidungen getroffen werden – und das ist mühsam. Deshalb braucht man eine Philosophie, ein Konzept, auf deren Grundlage entschieden wird. So etwas darf nicht intuitiv geschehen. Der Teppich löste Diskussionen aus, weil so etwas heute im Museum nicht mehr üblich ist. Wir haben diskutiert, was die Absicht des Architekten war, welche Folgen Änderungen haben würden. Natürlich hätte man den Teppich ersetzen können, aber das hätte Konsequenzen nicht nur für die Ausstellungsräume, sondern insgesamt das Gebäude gehabt.
Was wäre die Alternative gewesen?
Man hätte einen harten Boden nehmen können, also Stein – aber welcher Stein hätte das sein sollen, wo es ihn sonst überall gibt? Die andere Option war Holz. Aber das Besondere an Holz besteht darin, dass es eine Richtung hat. Die Neue Nationalgalerie beruht jedoch auf einem Raster. Insofern hat Mies mit dem Teppich eine gute Lösung gefunden, auch wenn es ihn vielleicht nicht von Anfang gab. Außerdem gehört er zur ursprünglichen Atmosphäre, zur Erinnerung an die Neue Nationalgalerie, wie sie immer war. Überall im Gebäude gibt es diesen harten Raum, geht man über Granit. Nur im Untergeschoss ändert sich dies, man gelangt in eine klare Galerie, die ein Garten begrenzt. Inzwischen sind alle glücklich mit dem Ergebnis.
Nicht nur um den Teppich wurde gerungen.
Nein, diese Auseinandersetzung war nur eine von zahllosen Diskussionen, die Teil des faszinierenden Dialogs einer Restaurierung sind. Bei den Fensterrahmen war es viel schwieriger, zwischen technischen, klimatischen und ästhetischen Aspekten zu entscheiden. Letztlich gibt es keine Schwarz-Weiß-Entscheidung – Mies bewahren oder durch eine technisch überzeugendere Lösung das Gebäude zerstören. Genau das mag ich an Deutschland: dass hier leidenschaftlich und offen diskutiert wird.
Gerade beginnen nebenan die Bauarbeiten für das Museum des 20. Jahrhunderts, das Sie nie für nötig hielten. Stattdessen bevorzugten Sie einen Ausbau hinter der Neuen Nationalgalerie. Macht Sie unglücklich, was auf dem Nachbargrundstück passiert?
Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass die Potsdamer Straße der richtige Ort ist. Aber Herzog & de Meuron werden bestimmt ein wunderbares Gebäude errichten. Am Ende werden wir sehen, ob es den Mies-van-der-Rohe-Bau beeinträchtigt oder nicht. Natürlich ändert sich dadurch die Gesamtsituation, aber ich bin optimistisch. Warten wir ab, wie die beiden Gebäude miteinander funktionieren.
Ist es nicht ein Affront gegenüber einer Ikone des 20. Jahrhunderts, dass das Gebäude von Herzog & de Meuron mit der Rückseite zu Mies van der Rohe weist?
Wir müssen akzeptieren, dass die Nationalgalerie ein Solitär ist. Doch gibt es einigen Platz zwischen den Bauten durch die Straße, die zwischen beiden vorbeiführt. Es wird irgendwann eine unterirdische Verbindung geben. Die Klarheit von Mies bleibt dadurch erhalten.
Haben Sie nicht Sorge, dass die Neue Nationalgalerie dann kein selbstständiges Museum mehr ist?
Nein, Mies wird immer von vorne besucht werden können, wie ein Tempel. Jedes Museum der Welt, das sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt, kämpft irgendwann mit einem Eingangsproblem. Die National Gallery in London hat drei Eingänge, das British Museum zwei, einen hinten und einen vorne. Unser eigenes Projekt, die James Simon Galerie auf der Museumsinsel, wirkt für viele verwirrend als Eingang für das Neue Museum. Die veränderte Eingangssituation hat mit den enormen Besucherzahlen zu tun.
Museen sind heute ein Ort für viele.
Ja, als kulturelle Institutionen haben sie eine neue soziale Verantwortlichkeit gewonnen. Für ihren Erfolg ist es unabdingbar, sich mit ihrer Eingangssituation auseinanderzusetzen. Das Problem hatten wir auch beim Saint Louis Art Museum in Missouri, beim Anchorage Museum in Alaska, bei der Royal Academy in London und dem Metropolitan Museum in New York. Natürlich muss man aufpassen, dass der historische Status eines Museums nicht gestört wird, aber heutzutage kann es nicht mehr von allen durch die Originaltür betreten werden. Der unterirdische Eingang hat also auch eine praktische Seite für die Neue Nationalgalerie.
Sie eröffnen gerade außerdem den Erweiterungsbau des Kunsthaus Zürich. Welches Haus ist Ihrem Herzen näher: der Neubau oder die rekonstruierte Architekturikone?
Keines. Es bedeutet die gleiche Verantwortung, ob man sich nun um sein eigenes oder ein fremdes Kind kümmern muss. Bei Mies spürten wir sie auch gegenüber der modernen Architekturgeschichte. In Zürich gab es Vorbehalte durch die Größe. Bei solchen Dimensionen ist es wie eine Transplantation; man kann vorher nicht wissen, ob der Körper das Organ akzeptiert oder abstößt. Aber die ersten Reaktionen in Zürich sind positiv. Auch Mies hatte Probleme mit der Akzeptanz, bevor seine Nationalgalerie eröffnet wurde, ebenso wir beim Neuen Museum auf der Museumsinsel.