Leben und Weben: Die Kunst von Sheila Hicks

Ein Berg von kissenartigen Textilformen, auf dem man sich am liebsten niederlassen würde, türmt sich vom Boden die Wand empor wie ein Schutzwall. Rot ist die Hauptfarbe der dicken Wülste aus verschiedenen Fasern, die von transparenten Netzen zusammengehalten werden, sowie der runden Kissenformen, die mit farbigen Fäden sternförmig umwickelt sind. Sie stapeln sich „In Hülle und Fülle“, so der treffende Ausstellungstitel der ersten deutschen Einzelausstellung von Sheila Hicks in einer Galerie seit 50 Jahren. Ihre Präsentation neuer Werke in der Galerie Meyer Riegger ist eine Entdeckung.

Sheila Who? Überall ist die 1935 in Hastings, Nebraska geborene Künstlerin mit ihren minimalen bis monumentalen Textilarbeiten präsent, im öffentlichen Raum wie in den großen Museen dieser Welt, nur hierzulande bisher kaum. Dabei war der aus Deutschland emigrierte Bauhaus-Künstler Josef Albers ihr Lehrer in Yale, bevor Hicks mit einem Fulbright Stipendium für einen längeren Aufenthalt nach Chile ging, um die Tradition des präkolumbianischen Texilhandwerks zu studieren. Über Albers lernte die junge Kunststudentin auch dessen Frau Anni Albers kennen, die als eine der innovativsten und einflussreichsten Textil-Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts ebenfalls erst in jüngster Zeit die volle Anerkennung erfahren hat.

Über Mexiko, Indien und Marokko gelangte Hicks nach Paris

Nach dem Studium ging Sheila Hicks bis 63 nach Mexiko, um sich die traditionellen Herstellungs- und Verarbeitungsprozesse weiter anzueignen. Weitere Reisen führten sie nach Indien und Marokko, bis sie sich 1964 in Paris niederließ, wo sie bis heute lebt und arbeitet. In unmittelbarer Nähe ihres verwunschenen Ateliers im Cour de Rohan, wo schon Balthus ihr Nachbar war, kam Ende der 1960er Jahre auch Claude Lévi-Strauss vorbei. Der große Ethnologe erfasste sofort Hicks‘ künstlerischen Ansatz, aus der Verknüpfung zwischen Moderne und traditionellem Kunsthandwerk eine universelle Sprache zu entwickeln, um kulturelle und geografische Differenzen zu überwinden. Seine Frau, die Textilhistorikerin Monique Lévi-Strauss, wurde zu ihrer ersten Biographin und lebenslangen Freundin.

In der spartenübergreifenden Tradition des Bauhauses bewegte sich Hicks von Anfang an zwischen Kunst, Design und Dekoration. Schon 1960 verkaufte sie eine erste Arbeit ans MoMA, arbeitete seit 1965 als Textildesignerin für Florence Knoll und übernahm große Dekorationsaufträge. Ob aus Wolle, Leinen, Baumwolle, Seide oder Kunstfaser leben ihre textilen Werke aus der Spannung zwischen weich und fest, gebändigt und entfesselt, Fläche und Raum, aber vor allem aus ihren leuchtenden Farben in unterschiedlichsten Formgebilden.

Das Weben als Metapher für komplexe Gedankengänge

Zu sehen sind die Planeten-Tondos, die mit vielfarbigen Fäden umwickelt wie kosmische Himmelsscheiben an der Wand leuchten. Bis zur Versteifung umwickelt sind auch die dünnen Stoffwülste „Color Class in New Haven“ (2023), die auf Albers‘ Farbenlehre anspielend an quer durch den Raum hängenden Bambusstangen baumeln. Wandbehänge aus dichten Wollsträngen mit glänzenden Einschnürungen oder im Wechsel mit bunt umwickelten Stäben rufen indigene Vorbilder auf. Und die ortsspezifische Installation aus blau-grünen Stoffstreifen, die ihrem Titel „Blue Evasion“ (2023) entsprechend sich massenhaft von einem Raum zum anderen spannen, um sogar aus dem Fenster und Balkon herauszuquellen, lassen den Traum einer grenzenlosen Dimension erahnen.

Das unerschöpfliche Reservoir an Ideen und Kompositionen zeigt sich in der kleinen Gruppe von „Minimes“ genannten Webarbeiten, die Hicks seit bald 70 Jahren auf einem kleinen Webrahmen fertigt. Sie sind in dem bezaubernden Kompendium „Weaving as Metaphor“ zusammengefasst, das 2007 auf der Leipziger Buchmesse zu einem der „Schönsten Bücher aus aller Welt“ gekürt wurde.

Das Weben als Metapher, das einzelne Fäden und ganze Stränge zu komplexen Gedankengängen und Traumgeweben verknüpft, verwebt, verwickelt oder verdreht, wird hier unmittelbar anschaulich. Mehr Sichtbarkeit für Sheila Hicks in Deutschland ist dringend erwünscht.