Im grünen Zelt
Mitten in der Halle steht ein Zelt. Hatte nicht Tracey Emin einst mit einem Zelt Furore gemacht? Nun, dieses Zelt hier soll nicht an vergangene Liebesnächte erinnern, sondern an die Unbehaustheit des Menschen. Für Marseille, diese Stadt zwar im Süden von Frankreich, doch auf der imaginären Grenzscheide zwischen Europa und Nordafrika, ist das ein passendes Symbol. Marseille bedeutet für viele seiner Bewohner Heimat und Heimatlosgkeit zugleich.
Die Kunstmesse art-o-rama ist durch ihren Veranstaltungsort mit diesem Stadtschicksal verbunden: Die ehemalige Zigarettenfabrik im Stadtviertel Belle de Mai, die einst ein Fünftel aller „Gauloises“ produzierte, wurde nach der Schließung 1990 zum Kultur-, aber auch Stadtteilzentrum umgewandelt, anfänglich unter Patronage des großen Architekten Jean Nouvel. Neben der alljährlich stattfindenden Messe gibt es Ateliers, Kino, Theater und nicht zuletzt Sport- und Spielplätze für einen problematischen Stadtteil. Und ein weitläufiges Ethno-Restaurant.
Das ist eine andere Atmosphäre als in den anderenorts üblichen Messehallen. Die Aussteller, 44 Galerien und Künstlerprojekte, bleiben davon nicht unberührt. Das erwähnte Zelt mit dem Titel „Rucksackhaus“ von Chalisée Naamani, einer gebürtigen Pariserin mit iranischen Wurzeln, ist als Beitrag der Galerie Ciaccia Levi (Paris) ausgestellt und erhielt denn auch einen der in Frankreich üblichen zahlreichen Preise, die von Stiftungen und Mäzenen ausgelobt werden. Ein anderer ging für den „wagemutigsten Auftritt“ an die Galerie Exo Exo und damit ebenfalls nach Paris: Ihre Koje wartet mit einer schräg-verwunschenen Installation des 26-jährigen Nachwuchsstars Gaspar Willmann auf.
Ja, Pariser Galerien gehen durchaus nach Marseille, weil sie hier ein anderes Publikum erwarten als auf der hauptstädtischen FIAC. Und auch die Museumskuratoren kommen, die Sammler sowieso. Galerien aus elf Ländern sind vertreten, und es ist nicht ungewöhnlich, dass sie mehr als einen Anlauf brauchen, um die Einladung zur Messe zu erlangen. Die Bedingungen sind formidabel, in der Gestaltung genießen die Aussteller weiten Freiraum. Und doch fügt sich alles zu einem stimmigen Gesamtbild, eher zu einer Gruppenausstellung zeitgenössischer Kunst denn einer Messe mit streng getrennten Kojen.
Aus Köln ist Philipp von Rosen (Galerie Rosen) zum vierten Mal dabei und schwärmt von den Kontakten, die er auf dieser Messe macht: „Die Pariser kommen auf jeden Fall.“ So ähnlich sieht das auch die Repräsentantin des Berliner Großgaleristen Johann König, der eines der Messe-„Projekte“ gemeinsam mit der Londoner Galerie Union Pacific vorstellt: Fotoarbeiten, im Londoner Teil vom Fotografen des Marlboro Man, Norm Clasen, in der Berliner Hälfte von Annette Kelm, gleich mit Preisschild (je 14 500 Euro) versehen – für Marseille eher ungewöhnlich.
Es sei denn, es handelt sich um die 60-teilige Bilderreihe von (abwechselnd) Tatiana Defraine und Lauren Coullard, die die Galerien Pierre Bourmet (Bordeaux) und A, Romy (Zürich) in schönster Kollaboration auf gleiche Unterkante gehängt haben und in einem eigenen Katalog für 500 bis 3000 Euro je Kleinformat anbieten. Fotografien präsentiert die Moskauer Galerie Osnova in ihrem minimalistischen Auftritt – keine Koje, sondern nur eine Wandecke, an der insgesamt zehn Schwarz-Weiß-Arbeiten karger Landschaftsausschnitte hängen, die Mikhail Tolmachev nach Recherchen bei russischen Afghanistan-Veteranen am Computer generiert hat.
Wetten und Wegzug
Ganz anders, aber ähnlich unwirklich ist bei Ceysson & Bénétière aus Paris das 36-Minuten-Video „Driving Through“ von Florian Pugnaire und David Raffini, die ein Stipendium in Los Angeles zur Erkundung geplatzer kalifornischer Siedlungsträume genutzt haben. Von dem Duo wird in Frankreich mit Hochachtung gesprochen.
[art-o-rama, La Cartonnerie, Friche la Belle de Mai, Mraseille, 41, rue jobin; bis 12. September, www.art-o-rama.fr]
Von Rosen zeigt einen thematischen Komplex von Anna Malagrida, die sich mit den verzweifelt hoffenden Besuchern von französischen Wettbüros beschäftigt, in der Mehrzahl Migranten aus Nordafrika. Das in Marseille allpräsente Thema Migration geht Rachel Monosov aus der Perspektive als Emigrantin aus der Sowjetunion an, die in die alte Heimat einer exklusiven, nun verfallenden Wissenschaftlersiedlung zurückkehrt. Ihre Galeristin, Catinca Tabacaru aus Bukarest, zieht die Parallele zum eigenen Land Rumänien, das beständigen Bevölkerungsverlust durch Wegzug zu verkraften hat. Die Münchner Galerie Nir Altman präsentiert hingegen mit Ndayé Kouagou einen Performancekünstler, der seine Situation in einem hinreißenden Video mit Verve und Witz reflektiert. Davon zeigten sich auch die Sammler begeistert – sämtliche Exemplare dieses Auflagenvideos gingen bereits in den ersten Tagen in private Hände.
Das vergangene Eröffnungswochenende brachte die ganze Kunstszene von Marseille auf die Beine, zumal die Galerien zum Rundgang luden. Zum Auftakt gab’s auf der riesigen Terrasse der einstigen Zigaretten-Lagerhalle ein Freiluftdinner, für gut 500 Gäste arrangiert von Emeka Ogboh. Der nigerianische „Documenta“-Teilnehmer lebt in Lagos und Berlin – und quasi im Schnittpunkt liegt Marseille, mit der art-o-rama als Ort des Austauschs in alle Richtungen.