„Ich verbinde mit Monstern etwas Positives“

Frau Ducournau, in Cannes dankten Sie der Jury dafür, dass diese mit der Goldenen Palme für „Titane“ die Monster hineingelassen habe. Was bedeuten Ihnen persönlich Monster im Kino?
Ich verbinde das Wort Monster mit etwas Positiven, weil sie der Normativität unser Gesellschaft trotzen. Aber mehr noch blicken Monster uns direkt in die Augen. Denken sie an Mary Shelley: Der erste Kontakt von Victor Frankensteins Kreatur mit einer Form von Menschlichkeit ist durch einen Akt der Gewalt. Der Schöpfer realisiert, dass die Untaten seiner Schöpfung lediglich Reflexionen seiner Persönlichkeit sind. Wir versuchen ständig, das Monströse aus unserer Mitte auszuschließen, als wäre es kein Teil von uns. Aber dieses „Andere“ hilft, uns selbst zu erkennen. Im Französischen stammt das Wort monstre von dem Verb montrer – zeigen. Monster sind ein Synonym für die Außenseiter unserer Gesellschaft: Menschen, auf die mit dem Finger gezeigt wird. Wir sollten lernen, diese Außenseiterposition in eine Stärke verwandeln.

Sie sprachen von einem Zeichen für eine „inklusive und fluide Welt“.
Das Kino muss die Vielschichtigkeit unserer Welt in allen Facetten abbilden. Mit dem Wort fluid wollte ich vor allem ausdrücken, dass wir noch offener für Dinge sein müssen, die wir nicht über uns verstehen. Mein Film spielt mit den Stereotypen von Genderzuschreibungen, männlichen wie weiblichen, bis sich die Grenzen irgendwann auflösen. Gender ist doch bloß ein soziales Konstrukt. Es gibt so viel mehr Interessantes über Menschen zu erzählen, als sie über ihr Geschlecht zu definieren.

„Titane“ ist ebenfalls fluide. Ihre Protagonistin verändert ihr Äußeres, sie wechseln zwischen Genres und Stimmungen. Die Geschichte Alexias beginnt extrem gewalttätig und endet fast zärtlich.
Ich orientiere mich bei der Entwicklung einer Geschichte an meinen Figuren. Alexia häutet sich, eine Schicht nach der anderen, bis ihre Essenz zum Vorschein kommt. Es geht nicht nur darum herauszufinden, wer du bist, sondern auch wer – oder was – du sein möchtest, nachdem du alle Zuschreibungen und gesellschaftlichen Erwartungen abgestreift hast. „Titane“ besteht weniger aus dramatischen Akten, denn aus aufeinander aufbauenden Eruptionen. Sie führen meine Figuren zum Wesen des Menschseins: bedingungslose Liebe und die Fähigkeit, uns und andere so zu akzeptieren, wie wir sind.

Agathe (Agathe Rousselle) tanzt auf Autoshows, hier findet sie auch ihre männlichen Opfer.Foto: Carole Bethuel

In „Titane“ ein schmerzhafter Prozess.
Körpertransformationen sind in meinen Filmen der erste Schritt, um sich eine Figur anzueignen. Die Dreharbeiten waren unglaublich intensiv: Agathe Rousselle verbrachte jeden Tag mehrere Stunden in der Maske, Vincent Lindon begann schon ein Jahr vor Drehbeginn mit dem Gewichtheben. Mir kommt es darauf an, dass meine Darsteller:innen ihre Persönlichkeit ablegen. Das kann jedoch nur funktionieren, wenn sie mir vertrauen.

Daher ist es meine Verantwortung, dass sie sich am Set sicher fühlen, psychisch und physisch. Ähnlich würde ich auch meine Beziehung zum Publikum beschreiben: Ich rüttele es auf. Die Menschen sollen sich ihrer eigenen Körper bewusst werden und über Körpererfahrungen einen Zugang zu meinen Figuren finden. Es geht mir nicht darum zu schocken. Darum sehe ich meine Filme, ehrlich gesagt, nicht mal als Horrorfilme.

Sie muten dem Publikum mit ihrer Figur Alexia trotzdem einiges zu.
Alexia ist eine Psychopathin, sie tötet ohne Grund Menschen. Darum entsteht auch diese Verbindung aus Fleisch und Metall. Man soll sich mit der Figur nicht identifizieren, ihr Todestrieb ist zu Beginn aber auch der Antrieb des Films.

Im Juli waren alle, nicht zuletzt Sie, von der Goldenen Palme überrascht. Was denken Sie, bedeutet der Preis für „Titane“ langfristig für das Kino?
Es steht gerade etwas auf dem Spiel. Man spürt den Fortschritt, sogar in Hollywood, wo vergangenes Jahr „Parasite“ von Bong Joon-ho den Oscar gewann. Ich hab mich auf der Bühne in Cannes daher nicht allein gefühlt, ein sehr tröstlicher Gedanke. Als ich da stand, musste ich plötzlich zum Beispiel an Jane Campion denken. Was hätte sie damals wohl gedacht, als sie den Preis für „Das Piano“ annahm, hätte sie geahnt, dass es 29 Jahre dauern würde, bis wieder eine Regisseurin die Goldene Palme erhält? Ich bin jetzt die zweite Regisseurin und habe die Möglichkeit, an die dritte, vierte und fünfte zu denken. (In 15 Berliner Kinos, auch OmU)