Hundert Jahre „Häschenschule“: Fuchs, du hast die Moral gestohlen!
Der Bauer ist böse, sprüht Gift auf die Felder und bedroht mit dem Mähdrescher die kleinen Feld- und Wiesentiere. Der Fuchs hingegen ist jetzt vegan, „Möhren haben’s ihm angetan“.
Die Landwirte empörten sich, als kürzlich „Die (neue) Häschenschule“ von Anke Engelke herauskam. Weil die Neufassung des Kinderbuchklassikers nicht mehr vor dem Fuchs warnt, sondern vor den Menschen und ihren Monstermaschinen.
In diesen Tagen wird das Original hundert Jahre alt, jenes „lustige Bilderbuch“ (Untertitel, einst in Fraktur) mit Versen von Albert Sixtus und Zeichnungen von Fritz Koch-Gotha, in dem die Hasen-Geschwister Hans und Grete in Möhrenkunde, Eiermalen und Hakenschlagen unterrichtet werden und vor allem das Bravsein lernen.
Im Vergleich zum „Struwwelpeter“ fällt die Pädagogik zwar eher milde aus, dennoch basiert sie auf Kontrolle und Angst. „Artig faltet man die Hände/bis das Frühgebet zu Ende“ – und auf dem Cover richtet der Lehrer seinen strengen Blick auf einen verschüchterten Schüler. Zur Strafe gibt’s einen Satz heiße Ohren.
Die stockkonservative Moral samt Geschlechterstereotypen ändert nichts daran, dass „Die Häschenschule“ bis heute ein Bestseller ist, mit über 2,5 Millionen verkauften Exemplaren und zahlreichen Übersetzungen in andere Sprachen, sogar in Dialekte wie Kölsch oder Erzgebirgisch. Weil Kindheitserinnerung gern im milden Licht der Nostalgie erfolgt? War das schön, als die Großen mir noch vorgelesen haben?
Das N-Wort bei Pippi Langstrumpf und der „Kleinen Hexe“, Rassismus auch bei „Jim Knopf“: Die Debatte über die Aktualisierung von Kinderbüchern mit aus der Zeit gefallenen, diskriminierenden Inhalten flammt auch bei der „Häschenschule“ immer wieder auf.
Gut so. Zum Wesen von Klassikern gehört ihre Wandlungsfähigkeit. Also her mit den Coverversionen und Überschreibungen, nur bitte mit weniger Botschaften und Belehrungen: Auch Engelkes „Häschenschule“ vermittelt ein recht simples Gut-Böse-Weltbild.
Bücher sind Freiräume und fürs Loslassen da, für Bilderstürme. Albert Sixtus, dem Autor der Reimerzählung, kann man immerhin zugutehalten, dass er auf die Tradition der Märchen- und Fabeltiere zurückgriff und gewissermaßen die Gattung der Tier-Fantasybücher mitbegründete. „Die Schule der magischen Tiere“, „Animox“, die „Woodwalkers“, was wären sie ohne die „Häschenschule“!
Verfasst hat Sixtus seine Verse übrigens bereits gut zwei Jahre vor ihrer Veröffentlichung, in einer einzigen Nacht, am 30. April 1922. Walpurgisnacht! Fuchs, du hast die Moral gestohlen: Wo hat Sixtus nur die Anarchie versteckt?