Gesangsschule des Lebens

In einem sind sie sich wohl alle einig: Die Pandemie war eine schmerzhafte Zäsur für die großen Knabenchöre. Wer wie sie darauf angewiesen ist, sich jedes Jahr aufs Neue zu verjüngen, weil die erfahrenen älteren Sänger ausscheiden, muss beständig für Nachwuchs sorgen. Wenn man dann nicht in den Grundschulen „angeln gehen“ kann, weil sie geschlossen sind oder im Homeschooling arbeiten, fehlen im schlimmsten Falle zwei Jahrgänge.

Zudem sind die Knabenchöre, die traditionell einen professionellen künstlerischen Anspruch pflegen, darauf angewiesen, dass die alten Hasen den Chornachwuchs ins Repertoire einarbeiten, das mangels Proben nun teilweise völlig neu aufgebaut werden muss.

Doch jetzt haben sich die Internate und Probensäle wieder gefüllt, kehrten die Knaben in ihre teils noch ungewohnte Umgebung zurück. Bei den großen sächsischen Chören in Leipzig und Dresden wurden über Online-Nachwuchstage zumindest so viele Sänger akquiriert, dass die Klassen gefüllt werden konnten, obwohl die Motivation gemeinsamer Auftritte fehlte.

Die Nachwuchssuche wurde durch Corona erschwert

Beim Windsbacher Knabenchor dagegen wird in der mittelfränkischen Idylle noch um eine große 5. Klasse gerungen: „Als ländliches Internat sind wir auf Nachwuchs aus der Umgebung angewiesen. Und erschwerend kam sicherlich hinzu, dass die Nachfolge für mich noch unklar war“, sagt Chorleiter Martin Lehmann. Er beerbt zum Ende des Schuljahres den amtierenden Kreuzkantor in Dresden, der sich in den Ruhestand verabschiedet.

Doch das ist nicht der einzige Wechsel an den Spitzen der Traditionschöre: Auf Lehmann, der selbst im Dresdner Kreuzchor seine Laufbahn begann, folgt der Ex-Thomaner Ludwig Böhme. Der 43-Jährige ist hoffnungsfroh bezüglich der Situation in Windsbach, die ihn ab dem Sommer erwartet: „Es waren zwei verlorene Jahre, ja. Aber warum sollte nicht wieder zu erreichen sein, was bis zur Pandemie erreicht werden konnte?“

Zusammen singen, zusammen den Alltag erleben

Dabei sieht Böhme gerade in der auf Außenstehende vielleicht anachronistisch wirkenden traditionellen Chorgemeinschaft im reinen Jungeninternat das größte Pfund: „In unserer schnelllebigen Gesellschaft wird Kontinuität ganz universell unterschätzt. Es ist eine Qualität, lange miteinander durch Dick und Dünn zu gehen.“

Denn mögen Knabenchöre ihre Anziehungskraft auf das Publikum aus ihrem besonderen Klang entwickeln, wirken sie auf die Jungs selbst vor allem wegen ihrer inneren Bindekraft: Der soziale Aspekt der Vorbildwirkung und Familiarität ist von nachgerade existenzieller Bedeutung. Erst im Knabenchor trauen sich viele Jungen das Singen wirklich zu. Konnten sie nun nicht mal mehr proben, zusammen essen, drohten nicht nur die musikalischen Fähigkeiten zu leiden, sondern auch Rituale und Freundschaften zusammenzubrechen.

Erst kicken, dann proben

In Leipzig kreuzt der bereits inaugurierte Thomaskantor Andreas Reize diesbezüglich längst in beruhigten Fahrwassern, obwohl es einen heftigen Sturm im Wasserglas um seine Berufung gab. Der von älteren Thomanern losgetretene Streit um seine Eignung, der sich wohl im Kern eher um seine katholische Schweizer Herkunft ohne Leipziger Stallgeruch drehte, war so erbittert in der Öffentlichkeit geführt worden, dass man Sorge haben musste, ob der ehemalige Solothurner Knabenchorist sein Amt überhaupt antreten würde. Doch die Wogen scheinen geglättet, Reize strahlt freundliche Ruhe aus und fühlt sich „total gut aufgenommen, sowohl in der Belegschaft als auch bei den Jungs“.

Zuerst war der 46-Jährige mit seinen Schützlingen auf Chorfreizeit gegangen, hatte mit ihnen nicht nur fleißig Konversation gepflegt, sondern auch Fußball gespielt und erst danach mit der intensiven Probenarbeit wieder angefangen.

Diese Aufbruchstimmung beflügelte offenbar die Stadt, in der besonders viele Musiker und sonstige Kreative wohnen. „Beim letzten Nachwuchstag im März wurde uns fast die Bude eingerannt“, sagt Reize ohne jeden Anflug von Angeberei. Offenbar hielten sich Neugier und Sehnsucht nach einem Neuanfang in jeder Beziehung auf beglückende Weise die Waage.

Hoffen auf eine konstante Finanzierung

Auch in Dresden dürfte diese Aussicht nach über 25 Jahren ohne Kantoratswechsel heilsam wirken: Auf Martin Lehmann lasten große Hoffnungen – die alle auf einmal zu erfüllen eine schier übermenschliche Aufgabe sein dürfte. Anders als in Leipzig ist der Kantor des Dresdner Kreuzchores traditionell auch fürs Intendant und damit auch administrativ für die 130 Sänger und 60 Mitarbeiter zuständig. Da gibt es naturgemäß viele offene Baustellen. Aber Lehmann kann auf seine Windsbacher Erfahrungen als Geschäftsführer zurückgreifen und ist damit „sehr hohe Erwartungen von allen Seiten gewöhnt“.

Ob es mit neuen Chefs und der Rückkehr hoffnungsvoller Talente allein getan ist, darauf darf man indes überall gespannt sein. Denn die Kulturfinanzierung wird sich in diesen Tagen noch stärker an der Relevanz der jeweiligen Ensembles ausrichten müssen. In Leipzig ist der städtische Kulturhaushalt, aus dem sich die Thomaner speisen, noch stabil. Deckungsgleich funktioniert die Finanzierung in Dresden, wo anlässlich Lehmanns Amtsantritt die Korrektur einer existenzgefährdenden Sachmittelkürzung verhandelt werden konnte. Als Anstalt des öffentlichen Rechts wird auch der Windsbacher Knabenchor teilweise mit öffentlichen, vornehmlich aber mit landeskirchlichen Mitteln finanziert. Wie lange all diese Systeme jedoch gesellschaftlich legitimiert bleiben, entscheidet letztlich die Strahlkraft der jungen Sänger mit.