Folge 184 „Wochniks Wochenende“: Im Verschwinden
Eine Binsenweisheit, die man sich selten vergegenwärtigt, ist, dass Klang vergänglich ist. Noch vor 140 Jahren bestand die einzige Möglichkeit, die eigene Stimme gleichsam von außen zu hören im Echo in den Bergen. Heute, dank Aufnahmetechnik, gehören Klänge zum sammelbaren, archivierbaren Kulturgut. Und zwar zum immateriellen Kulturgut, was angesichts der physischen Apparaturen mit denen Klänge aufgenommen, auf denen sie festgehalten und über die sie wieder abgespielt werden, befremdlich anmuten mag. Echo, in der griechischen Mythologie eine Nymphe, stellte für den Jüngling Narziss eine Bedrohung dar: seine Worte wiederholend, bot sie ihm quasi einen Spiegel seiner Selbst – für Narziss eine Lebensgefahr. Klang- und Lautarchive halten auch uns manchen Spiegel vor.
Die Arbeiten des bekanntesten Klangsammlers der Welt haben Sie höchstwahrscheinlich schon mal gehört: Chris Watson reist seit Jahrzehnten in die unwahrscheinlichsten Winkel des Planeten, um Klänge aufzuzeichnen, die drohen, zu verschwinden, setzt auf Alben, wie dem 2018 mit Alec Finlay aufgenommenen „Cairngorms Fauna Jukebox“ vom Aussterben bedrohte Arten in einen Dialog mit denen, die ihnen im selben Habitat nachfolgen. Watson erschafft aus seinen Field-Recordings künstlerische Hörstücke und Klanginstallationen. Zu Ohren gekommen sind den Meisten Menschen seine Aufnahmen aber über Produktionen des BBC – allem voran David Attenboroughs für den Klang preisgekrönte Serie „Life“.
Wird die erhobene Stimme aufgezeichnet, bekommen Field-Recordings auch politische Brisanz, wie auf Christopher DeLaurentis ikonischem Album „Live at Occupy Wall Street 2011-2012“, das einen beim Hören mitten ins Geschehen katapultiert. Auch das Projekt „Cities & Memory“ des Briten Stuart Fowkes sammelt Protestaufnahmen aus der ganzen Welt. Sowie, und das ist einmalig: „Migration Sounds“.
Ein Stück klingender Kolonialgeschichte finden Sie im anthropologischen Teil des Lautarchivs der HU-Berlin, und wer sich speziell für Berlinklänge interessiert, wird bei Peter Cusack fündig, dessen Album „Favourite Berlin Sounds“ 31 akustisch besondere Orte der Stadt dokumentiert.
Die Ukraine, sagte Wladimir Putin zu Beginn seiner Invasion, habe gar keine eigene Kultur. Die Sängerin Mariana Sadovska hat schon einige Jahre vor dem Überfall damit begonnen, verschwindende ukrainische Lieder auf Dörfern aufzuzeichnen, die das Gegenteil beweisen. Der in Berlin lebende Komponist Max Andrzejewski hat die Lieder für die Sängerin und ein achtköpfiges Ensemble arrangiert, im Dezember 2021 uraufgeführt. „Songs of Wounding“ (Pantopia Music 2023) heißt das Album, dem es, obwohl inhaltlich ganz etwas anderes als Protestmusik, an politischer Brisanz kein bisschen mangelt.
Nach dieser kleinen Auswahl, die mit ein wenig eigener Recherche schnell zum wochenendfüllenden Rabbit Hole wird, können Sie Max Andrzejewski übrigens Montagabend, 20 Uhr, bei der Eröffnung des „Stop Over“ Improvisationsfestivals in der Alten Münze live erleben.