Fest der Sinne

Akkordeon und Zither, Saxophon und Celesta, fünf Schlagzeuger, die einen Regenstab rieseln und ein Glockenspiel tremolieren lassen, Röhrenglocken, Marimbaphon und vielerlei Perkussionsinstrumente bespielen: Der Tiroler Komponist Thomas Larcher ist ein Klangzauberer. Die Erstaufführung seines dreisätzigen Klavierkonzerts – uraufgeführt im Mai im Amsterdamer Concertgebouw – wird in der Philharmonie zum Ratespiel.

Wie heißt die lamellierte Metallschale, an deren Stäben der Kontrabassist mit seinem Bogen entlangstreicht? Es ist ein Waterphone, das seinen Namen nach dem Erfinder Richard Waters trägt. Und klingt der für das Adagio vom Solisten Kirill Gerstein präparierte Flügel nun eher wie eine laute Harfe oder doch auch wie eine Zither?

Die Streicher steigen, poco lento, behutsam ein, mit tastenden Unisoni, changierenden Farbtönen, sich verdichtenden Soundschichten und später mit zarten Glissandi. Larcher, von Haus aus Pianist, zitiert die klassische Konzertform, um sie alsbald zu zerlegen – was das halbstündige Werk etwas kurzatmig macht.

Ein Mikrokosmos, extrem vergrößert unter der Lupe, Musik im Lockdown: Selbst das Klavier bewegt sich auf der Stelle, bis die Selbstbesinnung eruptiven Passagen weicht. Jagdszenen, Großstadtgetümmel, die Tonskalen schrauben sich nach oben, in schrille Höhen. Vom Klang zum Krach und wieder zurück.

Gastdirigent Semyon Bychkov hatte 2016 auch die Uraufführung der (soeben bei Ondine auf CD erschienenen) 2. Symphonie von Larcher geleitet. Nun sorgt er mit den Berliner Philharmonikern dafür, dass die Mutationen bei aller Verve fein austariert bleiben, vor allem beim synkopischen Jazz im Finalsatz. Gershwin lässt grüßen, die Bläser pusten auch mal in Plastikflaschen – bis das Werk sich am Ende auf schlichte Intervalle zurückzieht. Das Orchester lässt das Klavier allein, noch eine Quint, die Maschine steht still.

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Kein schlechtes Warming-up für Gustav Mahlers Vierte Symphonie nach der Pause. Es wird eine Sternstunde der aktuellen Saison, denn der russische Maestro entfacht gleich in den ersten Takten eine unerhörte, überbordende Sinnlichkeit. So erotisch, klangprächtig und doch immer transparent ist Mahler selten zu hören. Bychkov rückt ihn nahe an Mussorgsky und Berlioz, er schwingt die Hüften, lässt den Taktstock kreiseln, um ihn später niederzulegen und die Musik lieber auf Händen zu tragen.

Das volkstümlich Derbe, die morbide Süße, der kecke Humor, das Slawische, Jüdische, Wienerische, hier der Ballsaal, da der dörfliche Tanzboden und im letzten Satz der himmlische Festschmaus mit Sankt Martha als Köchin – man kann sich gar nicht satthören. Nur schade, dass der engelsreine, fein ziselierende Sopran von Chen Reiss im Finale mit dem Wunderhorn-Lied nicht immer ganz durchzudringen vermag.

[wieder an diesem Freitag, 20 Uhr, und am Samstag, 4.12., 19 Uhr. Dann auch Live-Übertragung in der Digital Concert Hall]

Der Schmelz von Ludwig Quandts Cello. Das Pianissimo von Stefan Dohrs Horn. Die ergreifende Oboe von Jonathan Kelly im Adagio. Der mephistophelische Danse macabre von Noah Bendix-Balgleys Solovioline. Ob es die hoch erhobenen Schalltrichter der Bläser sind, die herzpochende Rhythmik oder die süffig verschleiften Intervalle der Streicher – die Philharmoniker folgen Bychkov mit Wonne und Meisterschaft.

So viel Sinnesfreude fasst einen an, ruft Wehmut hervor. Das Mahlersche Paradox entspricht dem Corona-Lebensgefühl dieser Tage. Wie es aussieht, können die Konzerthäuser ihre Säle mit 2G+-Konzepten weiterhin füllen. Wie lange geht es noch gut? Stille nach dem letzten Ton, dann bricht der Applaus los.