Fantastische Geisteswelt

Samuel F. Monroe ist Spezialist für innere Welten von Komapatient:innen. Er hat eine Technik entwickelt, mit deren Hilfe er virtuell in den Geist dieser Menschen eindringen und sie zurück ins reale Leben holen kann. Für solch einen Auftrag wird Samuel von der gut situierten Familie Midori engagiert.

Eine weitere Seite aus „Ruinen“.Foto: Edition Moderne

Er soll deren Tochter Rose zurückbringen, die seit Jahren im Koma liegt, in der abgelegenen Villa der Familie weit außerhalb einer futuristisch anmutenden „Megalopolis“ aus sterilen Hochhausfluchten und Flugverkehrsadern. Samuel hat mit seinen eigens dafür angefertigten Apparaturen und seinen Fähigkeiten schon viele verirrte Seelen heimgeholt – aber dieser Auftrag stellt eine besondere Herausforderung dar, denn Roses Schwester Anha besteht darauf, mit von der Expeditionspartie zu sein.

„Ruinen“ (Übersetzung Christoph Schuler, Edition Moderne, 232 S., 32 Euro) ist der neue Comic des Franzosen Jérémy Perrodeau nach „Dämmerung“, dem 2017 erschienenen Öko-Science-Fiction-Comic über ein außer Kontrolle geratenes Experiment.

Erzählte der Vorgänger von einer Expedition auf einen fernen Planeten, führt die neue Geschichte ins extreme Gegenteil, in die innere Geisteswelt eines Menschen – Introspektion statt Flug ins All. Auch hier aber eröffnet Perrodeau eine fantastische Welt, in der unberechenbare Gefahren lauern, hinter Felsformationen, in Urwäldern oder auf verlassenen Gehöften.

Die Bildsprache zeigt unverkennbar dieselbe Handschrift: In Splashpanels, großen und kleinen, quadratischen, rechteckigen, quer- und hochformatigen Panels zeichnet Perrodeau in klarer Linie die Ruinenlandschaft in Roses Geist, die weiter zerfällt, je länger Rose im Koma liegt.

Ein ungleiches Paar

Archaischer und naturalistischer als im von geometrischen Formen durchsetzten „Dämmerung“ muten die Szenerien hier an. Außerdem beschränkt sich Perrodeau auf die Farbe Blau mit Schwarz und/oder Weiß und konzentriert sich gemäß dieser Monochromie auf einen einzigen Erzählstrang (im Gegensatz zu mehreren Erzählebenen und Farben in „Dämmerung“).

Das Titelbild des besprochenen Bandes.Foto: Edition Moderne

Dieses weniger komplexe Erzählgerüst erleichtert das emotionale Eintauchen in die Geschichte und bringt Leser:innen näher an die beiden Hauptfiguren Samuel und Anha.

[Jeremy Perrodeau wird im Juni zu Gast beim Internationalen Comic-Salon Erlangen sein. Er signiert seine Werke am Stand der Edition Moderne und nimmt am 16. Juni um 16 Uhr an einem Podium zum Thema Alternative Science-Fiction teil.]

Deren Beziehung ist anfangs von Misstrauen geprägt, wenn Anha Samuel als „gewöhnlichen Söldner“ einschätzt, dessen Interesse ausschließlich seiner Entlohnung gelte, und Samuel der jungen Frau die gefährliche Expedition nicht zutraut. Beide revidieren ihre Urteile im Lauf ihrer gemeinsamen Reise.

Während die Expedition für Anha zu einer Auseinandersetzung mit Roses und ihrer gemeinsamen Vergangenheit wird und beide daran wachsen können, gibt der vermeintlich distanzierte Profi Samuel in den aus seiner Sicht geschriebenen Kommentarkästen preis, wie mühsam es für ihn mitunter ist, seine psychiatrische Draufsicht zu wahren.

Weniger verschachtelt und raffiniert erzählt als „Dämmerung“, ist „Ruinen“ ein trotz seiner kühlen Optik ein emotional packender Comic.