Endet im Sommer die endlose Krise?

Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter:@Brinkbaeumer.

Eine Million Geimpfte an einem Tag: Finden wir in diesem Frühsommer den Ausweg, endet die endlose Krise? Die Antwort kann immer noch Nein lauten, falls das Virus aus Brasilien oder Indien verändert und wuchtig zu uns zurückkommen sollte; was aber, wenn die Antwort Ja lautet? Was wird hinterher wieder wie vorher sein?

Die Familie … nein, nichts steht, Zeit verstreicht, und Trauriges geschieht, zugleich Wundervolles; eine veränderte, sehnsüchtige Familie wird zusammenkommen. Der Freundeskreis … wird sich verändert haben.

Er hatte sich schon vor Corona verschoben wegen eines beruflichen Schnitts, nun hat er sich verkleinert ohne Begegnungen, und coronazaghaft baut er sich neu auf. Das Kind … wird in die Welt hinaustreten, vielleicht Bälle werfen und musizieren, Feste feiern und schwimmen und Freunde finden, Kind sein, hoffentlich.

– Das ganze Andere … Essen im Restaurant … Konzerte im Gewandhaus … und Kino! Ich habe es tatsächlich bereits vergessen, habe ewig nicht an Kinosäle gedacht. Und … wer aus unserem einst treuen Kreis wird dabei sein, wenn wir wieder zum FC St. Pauli gehen dürfen, und wer hat dann die neue Dauerkarte nicht mehr bestellt?

– Begrüßung per Handschlag, per Wangenkuss? Ich glaube, wir werden die gelernte Distanz wahren. Auch Pünktlichkeit wird ihre neue Bedeutung leider behalten. Digitale Konferenzen beginnen fahrplanhaft, irgendwer aber hat Schwierigkeiten beim Einwählen, meistens ich, oder ich habe gerade keinen Ton oder sende kein Bild, und um eine Minute nach acht sagt die Moderatorin: „Wo bleibt denn Herr Brinkbäumer?“

– Der Satz der Woche steht in der Begründung des Bundesverfassungsgerichts und ist gewichtig, womöglich grandios, denn irgendwann, wenn es denn gut geht, dürfte der Satz „historisch“ und „Wendepunkt“ genannt werden. „Vorschriften, die jetzt CO2-Emissionen zulassen, begründen eine unumkehrbar angelegte rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit“, schreibt das Gericht in seinem Klima-Beschluss: Eine Generation haftet für die nächste, Eltern kennen das.

„Der Kompromiss ist, dass wir erst bremsen, wenn es zu spät ist?“

– Wort der Woche: „Phänomenbereich“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat einen solchen entdeckt oder definiert oder besetzt oder erfunden und nennt seinen Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Die Verfassungsschützer schreiben, dass die soge- und selbster-nannten Querdenker unsere Demokratie gefährdet „und verächtlich gemacht“ hätten.

– Interview der Woche: Tilo Jung, Erfinder von „Jung & Naiv“ und als solcher zugleich Nervensäge wie permanente Erfrischung der Bundespressekonferenz, spricht mit dem Mikrobiologen Lothar Wieler, dem Präsidenten des Robert Koch Instituts. Jung sagt, dass wir in der Pandemie immer wieder neu auf Klippen zuführen, aber immer wieder erst auf der Klippe zu bremsen versuchten. Wieler nickt. Jung: „Der Kompromiss ist, dass wir erst bremsen, wenn es zu spät ist?“ Wieler: „Ja.“ Jung: „Das ist doch verrückt…“ Wieler: „Ja … es ist … sagen wir so, ich bin darüber nicht glücklich.“

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– An einem Schwabinger Abend, als ich vor 33 Jahren in München lebte und in der „Lach- und Schießgesellschaft“ (diese Enge, wissen Sie noch, wie das war, Tisch an Tisch?) Gerhard Polt erlebte, fand ich einen Helden. Zwei Jahrzehnte lang, im Norden Deutschlands und in den USA, habe ich nicht mehr an Polt gedacht. Jetzt lese ich ein “SZ”-Interview, und Polt sagt noch immer schöne Sachen: „Der Mensch ist ein Klangkörper, ein Geräusch. Warum klingt Bairisch schöner als Hochdeutsch? Das Verhältnis von Vokal, Konsonant und Zischlaut ist angenehmer, im Italienischen ist es genauso … Du bist a Hund, das kann gerichtsmassig sein oder Ausdruck der Bewunderung.“