Ed Sheeran hat neue Hits und Kitschballaden
Er hat das Wembleystadion in London ausverkauft und das Olympiastadion in Berlin. Er ist Dauergast an den Chartspitzen, hat Streamingrekorde gebrochen und zahllose Preise gewonnen.
Trotzdem kommt der britische Superstar Ed Sheeran noch immer als der nette Normalo von nebenan rüber, als ein Typ, mit dem man im Pub ein Bier trinkt und über Liebeskummer spricht. Unfreiwillig bestärkt hat der Musiker diesen Status zu Beginn der Woche, als er in auf seinen Social-Media-Kanälen erklärte, dass er positiv auf Covid getestet wurde und sich in häuslicher Quarantäne befinde.
Die Singles „Bad Habits“ und „Shivers standen an der Chartspitze
Das verbindet ihn mit vielen seiner Landsleute. Die Infektionszahlen auf der Insel schießen derzeit in die Höhe, die Inzidenz lag zuletzt bei 465, die Zahl der beatmeten Patient*innen in den Klinken steigt. Großbritannien hat Corona – Ed Sheeran auch. In seinen Instagram- und Twittermeldungen erwähnte der 30-Jährige nicht, ob er geimpft ist oder wie es ihm geht. Allerdings wirkte er in einem kurzen Video, das er am Donnerstag hochlud, recht fidel.
Er hielt die Vinyl-Ausgabe seines neuen Albums hoch, dessen Veröffentlichung am Freitag er nun ebenfalls in der Isolation erlebte. „Ich werde heute und morgen eine Solo-Party feiern“, schrieb er dazu. Er kann die Korken knallen lassen, denn der Erfolg von „=“ (gesprochen: Equals) ist schon jetzt eine sichere Sache. Die starken Vorabsingles „Bad Habits“ und „Shivers“ standen zusammen bereits 15 Wochen an erster Stelle der UK-Charts, auch in Deutschland stiegen sie an die Top-Position. Dasselbe wird mit dem Album sowie weiteren Singles geschehen.
Die Formel für massenkompatible Popmusik hat Ed Sheeran vor vier Jahren mit „÷“ (gesprochen: Divide) und dem darauf zu findenden Hit „Shape Of You“ (allein fünf Milliarden Youtube-Klicks) geknackt. Vielleicht hat er für dieses Ziel alle seine Solowerke angefangen mit dem Debüt „+“ vor zehn Jahren nach mathematischen Zeichen benannt. Fehlt nur noch „-“, das wohl im nächsten Jahr folgt, wenn Sheeran auf seine „+ – = ÷ x Tour“ geht. Fertig geschrieben ist das Album schon, wie er kürzlich in einem Interview verriet.
Vorher können die Fans erstmal die 14 aktuellen Songs in Dauerschleife hören. Sie werden dabei vieles finden, was sie an Ed Sheeran kennen und lieben. Zu „Stop The Rain“ beispielsweise möchte man sofort tanzen, es gleich nochmal hören.
Sheeran exerziert hier geradezu mustergültig durch wie ein Hit im Streamingzeitalter aufgebaut ist: Er beginnt mit sehr eindringlich vorgetragenen Mutmach-Zeilen, die nur von einer schnell geschlagenen Gitarre mit gedämpften Saiten begleitet werden, nach 20 Sekunden kommt eine sanfte Four-to-the-Floor-Bassdrum hinzu und acht Sekunden später biegt Sheeran in den Refrain ein – pünktlich, um die Hörer*innen über die 30-Sekunden-Marke zu ziehen, ab der ein Song in den Streamingportalen gezählt wird. „You cannot stop the rain, no way/ Holdin’ an umbrella when the grey clouds come over again/ Tryna find somethin’ real, but it’s not the game they play“, singt Sheeran, während sich ein muskulöser Bass und Handclapbeats entfalten.
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Kurz drauf machen dann die Akustikgitarren Tempo, halten den Song in der Dauerspannung, die ihn so mitreißend macht. Könnte ein Hit werden.
Relativ sicher gilt das für die nächste Single „Overpass Graffiti“, bei der Ed Sheeran sich deutlich an The Weeknd orientiert. Mit „Blinding Lights“ hat der Kanadier vor zwei Jahren einen Knaller geliefert, der in Ed Sheerans Liga spielt. Nun versucht sich der Brite selbst an einem an A-ha geschulten 80s-Pop-Sound mit melancholischem Einschlag. In der Strophe gelingt ihm das überzeugend, doch der Refrain fällt ab, auch weil Ed Sheeran bei dessen Auftaktzeile „I will always love you“ irritierenderweise an Robert Smith im gleichnamigen The-Cure- Song erinnert.
Die Gebrochenheit und der Schmerz, die bei The Weeknd stets mitschwingen, kann Sheeran nur imitieren. Obwohl es im Text, um eine verflossene Liebe geht, deren Ende er betrauert, will man ihm das nicht recht abnehmen. Wenn er auf „=“ Tiefe anstrebt, landet er ansonsten meist im Kitsch. Das gilt vor allem für die Balladen.
Bei „Visiting Hours“, das seinem verstorbenen Mentor Michael Gudinski gewidmet ist, versucht er mit Hilfe eines Chores und dramatischem Falsett, eine bedeutsame Atmosphäre zu erzeugen, aber es klingt einfach nur aufgesetzt. Bei „The Joker And The Queen“ ist Ed Sheeran in seinem Kerngebiet, dem Liebeslied. Hier weiß er, wie man eine glaubwürdige Emotionalität heraufbeschwört, doch die Penetranz mit der er das einfache Motiv des Songs auswalzt, hebt diesen Effekt wieder auf.
Mit „Perfect“ hat Ed Sheeran auf dem „÷“-Album bereits den ultimativen Liebesschmachtfetzen geschrieben. Eine Wiederholung glückt ihm auf dem Nachfolger nicht, wobei „First Times“ einen soliden Versuch darstellt. Neu im Repertoire hat Sheeran Vatergefühle. Gleich im ersten Song „Tides“ erwähnt er, dass sein Leben durch seine Elternschaft komplett verändert wurde. Und mit „Sandman“ hat er natürlich auch gleich ein Schlaflied für seine einjährige Tochter Lyra aufgenommen, das sich aus einer schlichten Ukulelen-Marimbaphon-Nummer in ein opulentes Arrangement weitet.
Viola und Violine hat der kanadische Komponist und Popmusiker Owen Pallett gespielt. Das steht in den Credits, wo auch Kylie Minogue (bei „Visiting Hours“) auftaucht. Doch auf offizielle Feature-Gäste verzichtet Sheeran, der 2019 das „No. 6 Collaborations Project“ mit irrem Promi-Aufgebot herausgebracht hat, und selbst ständig irgendwo mitsingt. Jetzt lautet sein Statement: Ich bin mir selbst genug. Es wird aufgehen wie alle seine Gleichungen – nur bei Covid, da hat er sich verrechnet.