Die geschundene Nation: Yaroslav Hrytsaks historische Biografie der Ukraine

In der Nacht zum 27. April 1986 ruft Wolodymyr Schtscherbyzkyj im Kreml in Moskau an. Rund 130 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew brennt das Kernkraftwerk Tschernobyl. Es ist der größte anzunehmende Unfall, der Gau, die Situation außer Kontrolle.

Der Chef der ukrainischen Kommunisten will von der Zentrale in Moskau die Erlaubnis einholen, die Massendemonstration zum 1. Mai abzusagen. Sollte er dies wagen, werde er abgesetzt, heißt es aus dem Kreml.

„Die lokale Führung durfte selbst in lebensbedrohlichen Fragen keine unabhängigen Entscheidungen treffen, und das Zentrum hatte kein Interesse daran, die einheimische Bevölkerung zu schützen“, schreibt der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak in seinem Buch „Ukraine. Biografie einer bedrängten Nation“.

Eine russische Kolonie

Für ihn ist der Fall Tschernobyl einer der zahllosen Belege dafür, dass die Ukraine eine russische Kolonie war. Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin ist die Ukraine nicht einmal das. Er veröffentlicht im Juli 2021 einen langen Essay mit dem Titel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ mit der Kernthese: Die Ukraine gibt es gar nicht. Russen und Ukrainer seien ein Volk.

Ein halbes Jahr später überzieht er das Nachbarland mit Krieg, um es als selbständigen Staat zu vernichten und das Territorium wieder an das russische Imperium anzuschließen.

Inzwischen gibt es auch in deutscher Sprache viele hervorragende Veröffentlichungen zur ukrainischen Geschichte. Wer nur die Zeit hat, eine von ihnen zu lesen, sollte unbedingt zu dem kürzlich erschienenen Werk von Hrytsak greifen.

Der Gründungsmythos wird demontiert

Der Autor beginnt mit der Demontage des Gründungsmythos des russischen Staates. Die „Kiewer Rus“ hat es nie gegeben, sie ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Die alte „Rus“ – Russland oder die Ukraine? „Diese Debatte ist unsinnig“, findet Hrytsak. Die alte Rus sei weder russisch noch ukrainisch. Ein Streit über diese Frage „hat ebenso wenig Sinn wie die Debatte, ob das Reich der Karolinger französisch oder deutsch war“.

Hrytsaks Buch holt die ukrainische Geschichte in die europäische zurück. Mit zahlreichen Querverweisen macht der Autor sichtbar, was die meisten Westeuropäer lange nicht wahrhaben wollten: Die Ukraine ist zwar kein eigener Staat, aber dennoch eine Nation. Damit ist sie beileibe kein Einzelfall in der Geschichte Europas.

Die Ukraine wird immer wieder Spielball der stärkeren Nachbarn. Nach deren Machtverfall der Mongolenherrschaft findet sich die Ukraine am Ausgang des Mittelalters zunächst als Untertan des Königreiches Litauen-Polen wieder.

Falsche Hoffnungen auf den Nachbarn

Westlicher Einfluss dominiert zwei Jahrhunderte lang. Er hat auch eine Kehrseite: nämlich die erneute Unterdrückung der Eigenständigkeit. Die ukrainisch-polnischen Konflikte bringen Moskau ins Spiel. Die Spannungen wachsen ständig und münden schließlich 1648 in den Kosakenaufstand unter Bogdan Chmelnizkyj.

Der wendet sich hilfesuchend an Moskau, in der Hoffnung, ein Bündnis auf Augenhöhe mit diesen Nachbarn schließen zu können. Es erweist sich als Trugschluss. Moskau bricht die Vereinbarungen rasch.

Zarin Katharina macht den Hoffnungen auf ukrainische Selbstbestimmung ein Ende. Zwei Jahrhunderte imperialer Zwangsgravitation beginnen. Das Gefühl der Freiheit geht verloren, doch es verschwindet nie ganz.

Perioden von russischen Assimilierungsversuchen wechseln mit Abschnitten unverschleierter kolonialer Unterdrückung. Hrytsak zeigt letztere exemplarisch an der russischen Diskriminierung der ukrainischen Sprache.

Der Versuch einer Staatsgründung nach dem Ersten Weltkrieg und der russischen Revolution wird rasch abgewürgt. Wieder setzt sich das Recht des Stärkeren durch, diesmal sind es die Bolschewiki mit ihrem Konzept einer „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“.

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Es führt die Ukraine in die nächste Tragödie. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, rechnet Hrytsak vor, verlor die Ukraine 50 Prozent ihrer männlichen und 25 Prozent ihrer weiblichen Bevölkerung. Die Stichworte heißen: Bürgerkrieg, die Hungersnöte Anfang der 20er-Jahre und 1930/31.

Schließlich überziehen die deutschen Faschisten die Region mit Krieg. Zweimal geht er über das Land hinweg. Einmal Richtung Moskau, dann zurück Richtung Berlin.

Der Zerfall der Sowjetunion macht die Ukraine schließlich unabhängig. „Doch die hohen Erwartungen wichen tiefer Desillusionierung“, schreibt Hrytsak. Statt Demokratie entwickelt sich ein oligarchisches System mit grassierender Korruption und Vetternwirtschaft. Die Gesellschaft ist tief gespalten, es ist die russische Aggression, die sie in eine Solidargemeinschaft führt.

Putin erreicht das Gegenteil dessen, was er in seinem Essay behauptet. Der von Putin entfesselte Massenmord festigt die ukrainische Nation als Staat – oder dem russischen Diktator gelingt es am Ende doch, ihn zu vernichten. Die Dialektik der Geschichte erweist sich wie so oft als Tragödie.