Der Weisheit letzter Schluss: Zubin Mehta bei den Berliner Philharmonikern
Es ist ein langer Weg, den Zubin Mehta bis zum Dirigentenpult zurücklegen muss, das wie ein Hochsitz die Reihen der Berliner Philharmoniker überblickt. Langsam bewegt sich der 87-Jährige mit seinem Gehstock darauf zu, erklimmt auch die letzten steilen Stufen ohne jede Hilfe, in seinem Tempo.
Und dann strahlt er ein Mehta-Lächeln in den ausverkauften Saal, das Mühen und Fragilität vergessen macht. Dieses Lächeln, diese feine Menschenfreundlichkeit, ist längst wichtiger geworden als der Taktstock, der Mehta hinterhergereicht wird. Es erreicht auch die nunmehr dritte Musikergeneration, seit er 1961 sein Debüt bei den Philharmonikern gegeben hat.
So, als würde man ein vertrautes Gespräch ganz selbstverständlich fortsetzen, taucht Robert Schumanns „Genoveva“-Ouvertüre auf, licht und zart, frei von rhetorischen Zuspitzungen, ganz darauf vertrauend, dass Stille nicht das Ende des Dialogs bedeutet. Dieses staunende, auch Distanz wahrende Musizieren bekommt dem Auftakt dieses Abends gut, der live auch in Kinos in ganz Europa übertragen wird.
Schwieriger wird es bei Bartoks 2. Klavierkonzert, das erst am Ende das ganze Orchester fordert. Bis dahin muss die Spannung zwischen dem Solisten und einzelnen Orchestergruppen halten, im besten Falle wachsen. Yefim Bronfman ist ein kraftvoller Pianist und ein vertrauter Partner der Philharmoniker, doch die Energieübertragung will diesmal nicht recht in Gang kommen, vielleicht, weil Mehtas Lächeln nicht hinter den aufgeklappten Flügeldeckel dringt.
Zwischen traumhaften Holzbläsern und vor sich hin berserkerndem Klavier findet wenig Kommunikation statt. An Bartoks Gabe, unterschiedlichste Stile virtuos zu verschmelzenden, muss man ganz fest glauben, um die Lücke zu schließen, die sich hier beim Hören auftut.
Mit Kirill Petrenko ist eine neue Ära der Tschaikowsky-Interpretation bei den Philharmonikern angebrochen. Abgründig, messerscharf, bar jeder Larmoyanz gewinnen seine Werke eine existentielle Wucht, die Musiker:innen und Publikum viel abverlangt. Mehta hat sich für Tschaikowskys Vierte entschieden, die zwischen Wehmut und Schicksalswucht taumelt und sich zum Ende an einem pathetischen Glücksbegriff versucht.
Bei Mehta stehen die Gegensätze in schlichter Klarheit nebeneinander: hier niederschmetternde Blechbläserfanfaren, die Verdi erblassen lassen würden, und dort Erinnerungen an unwiederbringlich Verronnenes.
Soll man sich in die Konflikte stürzen, die sich zwangsläufig daraus ergeben, oder die Polarität des Lebens akzeptieren und das Glück erkennen in den kurzen Momenten der Stille? Zubin Mehta gibt darauf lächelnd seine Antwort, und ein stehender Saal begleitet seinen langsamen Abgang.