Der Esprit des Jahrhunderts

Sie thront noch immer im Dachgeschoss ihres schlossgelben hübschen Hauses in Berlin-Dahlem, das zugleich Domizil des eigenen Theater- und Medienverlages ist. Die erstaunliche, wunderbare Maria Sommer wird dort am 4. Mai 100 Jahre alt und lebt weiterhin keineswegs im Ruhestand. Sie hat einst Jean Anouilh und Arthur Miller, George Tabori und Slawomir Mrozek für die deutschen Bühnen entdeckt, dazu Graham Greene oder Peter Ustinov mit aufs Theater gebracht und als enge Vertraute von Günter Grass bis zu dessen Tod seine Theaterstücke und die Filmrechte an den Romanen betreut. Die Oscar-preisgekrönte „Blechtrommel“-Verfilmung von Volker Schlöndorff hat sie mit angestoßen, und einer ihrer aktuellen Autoren ist Ferdinand von Schirach mit seinen publikumswirksamen Debattenstücken.

Sie brachte Tabori, Grass und Arthur Miller auf die Bühne

Maria Sommer nur eine Grande Dame der Verlagsszene zu nennen, wäre viel zu wenig. Sie, die bis vor Kurzem kaum eine wichtige Premiere versäumt hat, sucht zwar selbst nie das Rampenlicht und scheut auch zu ihrem großen Jubiläum die Öffentlichkeit. Aber sie ist doch in Deutschland die Königin im Reich der Verlage.

Ein großer Geist und starker Mensch. Zudem als Anwältin ihrer Autor:innen eine Pionierin des modernen Urheberrechtsschutzes. Lange Jahre hat Maria Sommer auch den Verwaltungsrat der VG Wort geleitet, deren Ehrenpräsidentin ist sie auf Lebenszeit.

Als Hundertjährige, mit hellem Verstand und schönem Gesicht, kann man sie in Berlin heute wohl nur mit Margot Friedländer vergleichen. Diese als junges jüdisches Mädchen verfolgt, eine Überlebende des Holocaust. Maria Sommer dagegen, in einem nazifernen Elternhaus doch im Nazismus aufgewachsen, hat dazu einmal in einem Gespräch sehr nachdenklich gesagt: „Ich werde mich bis an mein Lebensende fragen, wie ist es möglich, dass man anwesend und nicht dabei war.“ Und dann: „Worauf beruht Gewissen? Gibt es Gewissen a priori?“

Das Lesen ist ihr Leben. Maria Sommer an ihrem Schreibtisch.Foto: Foto: Ruth Walz

Aus dieser Erfahrung kam auch ihre frühe Aufmerksamkeit für George Tabori. Sie holte den damals noch in den USA lebenden ungarisch-englischen Autor und Theatermacher 1969 mit seinem Stück „Kannibalen“ nach Deutschland, in die Werkstatt des Schiller-Theaters. Es war das erste Bühnendrama, das in Auschwitz spielte, dort, wo Taboris Vater ermordet wurde: ein Requiem, das auf eine für hiesige Augen und Ohren zuerst skandalös unheimliche Weise Tragik mit Komik vereinte.

Neben Grass und Christa Wolff war Tabori der Theaterverlegerin von allen Künstlern am nächsten. Was war für sie das Besondere an ihm? Ohne Zögern kam die Antwort: „Dass er ein Mensch war.“ Nur fünf Worte, die alles sagten. Auch über die gebürtige Berlinerin, in der viel steckt vom kurzen, treffenden Witz, gepaart mit weltläufigem Esprit.

Noch nicht ganz 23-jährig hat sie noch vor Kriegsende promoviert, über die „Zensur in Berliner Theatern im 19. Jahrhundert“. Das erschien ihr während der NS-Zeit als „einigermaßen unverfänglich“, weil mit historischer Distanz und zudem der Pointe, dass sich Theaterkünstler im einstigen Preußen durch formelle Zensurregelungen geschützter fühlten, als wenn sie der spontanen Willkür einzelner Polizeibeamter ausgeliefert waren. Sommer: „Um meine Promotionsurkunde zu kriegen, bin ich von Schöneberg durch die zerbombte Innenstadt zur Uni Unter den Linden gerobbt, am 20. April 1945, Hitlers letztem Geburtstag, kaum einen Kilometer entfernt von seinem Führerbunker.“

Sie lebt und arbeitet in Dahlem

Mut und Klugheit. Als Gustav Kiepenheuer 1945 in Weimar seinen Buchverlag neu gründete, übernahm das junge „Fräulein Doktor“ in einem Berliner Behelfsbüro als Einfrauressort die Theaterabteilung, die damals viele, bis 1933 lukrative Rechte etwa an Stücken Brechts, Ernst Tollers oder Georg Kaisers verloren hatte. Als Kiepenheuer dann mit seinem neuen Partner Caspar Witsch nach Köln zog und fortan den Verlag Kiepenheuer & Witsch betrieb, blieb Maria Sommer in Berlin, verkaufte eine goldene Uhr des Vaters, nahm einen Kredit auf und erwarb für einst „sagenhafte 20 000 Mark“ den „Gustav-Kiepenheuer-Bühnenvertrieb“. So heißt das Unternehmen, das doch Maria Sommers Verlag ist, bis heute.

In der Dahlemer Villa, um die herum der Flieder blüht, ist ihr Wohnzimmer im Hochparterre zugleich der verlegerische wie private Empfangsraum, im Esszimmer mit Blick in den Garten treffen sich auch das halbe Dutzend Mitarbeiter:innen mit der Chefin zum gemeinsamen Tafeln und Planen. Im ersten Stock sind die Büros, auch der Sitz des seit Langem betrauten Nachfolgers Bernd Schmidt, darüber führt die steile Treppe ins persönliche Reich der Jubilarin – fotografiert jüngst von Ruth Walz, selbst eine legendäre Begleiterin des Theaters, der Schaubühne vor allem.

Leider schrieb sie nie ihre Memoiren

Voller Bücher, Manuskriptberge und auf dem Scheibtisch ein wegen der nachlassenden Sehkraft mit einer Speziallupe versehenen PC. Hier oben haben sich auch die mehr als 700 Schreibmaschinenseiten ihrer Doktorarbeit wiedergefunden. Sie wurden kürzlich nochmal abgetippt und von Frau Dr. Sommer mit dem akribischen Blick, dem sich auch die deutsche Gesamtausgabe der Werke von Luigi Pirandello verdankt, Wort für Wort und Fußnote für Fußnote überprüft. Die Arbeit steht nun im Internet.

So ist dieses Frühwerk das einzige, das allein unter ihrem Namen veröffentlicht ist. Wie schade, dass sie, die große Uneitle, die Jahrhundertfrau, nie ihre Memoiren geschrieben hat. Sie wären ein Schatz. Denn sie ist selber einer. Gratulation und: Viva Maria!