Das Glück dauert eine Zigarettenlänge
Die Schatten, die der Zweite Weltkrieg wirft, sind lang, weit über das Kriegsende hinaus. „Wahrscheinlich sind Menschen, die einmal im Krieg waren, lebenslang im Krieg, und die einmal fliehen mussten, sind für immer wurzellos“, heißt es in Ralf Rothmanns neuem Roman. Es ist ein bildgewaltiges und lebenspralles Buch, wie wir es von Rothmann kennen.
„Die Nacht unterm Schnee“ ist der Abschluss seiner Trilogie über Krieg und Nachkriegszeit, nach „Im Frühling sterben“ (2015) und „Der Gott jenes Sommers“ (2018). Einigen Figuren aus den Vorgänger-Romanen begegnet die Leserin jetzt wieder.
Elisabeth Isbahner, die Hauptfigur, ist das, was man ein Luder nennen würde: frivol, eitel, lebenslustig, impulsiv berechnend. Vor ihrer Heirat schläft sie mit diversen Männern, hinterher sind es zwar weniger, aber moralische Skrupel kennt sie nicht. Sie arbeitet in einer Gaststätte am Kieler Hafen, flink und umsichtig, und doch scheint die notorisch Fröhliche etwas Dunkles in sich zu tragen.
Später zieht sie zu ihrem gutmütigen, zurückhaltenden Mann Walter aufs Land, der als Melker auf einem Gutshof arbeitet. Dass sie das Landleben eigentlich hasst und keine Lust hat, ihr Leben auf einem Melkschemel zu fristen, belastet nicht nur sie, sondern auch die Ehe. Trotzdem bleiben die beiden zusammen und bekommen zwei Kinder.
Elisabeth ist eine launische Mutter, die ihre Kinder regelmäßig schlägt, oft wegen Nichtigkeiten. Später wird sie ihre Prügelattacken vor sich selbst und anderen herunterspielen, mehr als ein „Klaps“, so Elisabeth, war das doch nicht. Was Walter nur ahnt: Die jüngere Tochter, die an einer Nervenkrankheit leidet, ist nicht sein Kind, der Vater ist der Gutsbesitzer.
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Es ist ein geschickter Schachzug des Autors, dass er die Biografie seiner sprunghaften Hauptfigur weitgehend von einer anderen Frau erzählen lässt, nämlich von der Ich-Erzählerin des Romans, Luisa. Ihre Eltern betreiben die Gaststätte, in der Elisabeth kellnert. Die beiden Frauen werden Freundinnen, und die etwa fünf Jahre jüngere Luisa schaut auf Elisabeth, ihre Affären und Lügengeschichten immer mit einer Mischung aus Wohlwollen und Befremden.
Aus dieser Perspektive des ironischen Abstands erleben wir die Hauptfigur, für die Moral und Anstand so fremd sind wie die Euter der Kühe, mit denen sie sich mehrere Jahre abplagen muss. Dass Luisa, die Intellektuelle, ein ganz anderes Leben führt als Elisabeth – sie wird Bibliothekarin, heiratet ihren Literatur-Professor – , führt zu einer immer größeren Distanz zwischen den beiden Frauen.
Es gibt noch eine zweite Ebene in diesem komplexen Roman, sie hat mit Elisabeths Vergangenheit und dem Krieg zu tun. Wir begleiten sie, die in einem Dorf bei Danzig als Kind von Landarbeitern aufwächst, auf der Flucht, getrennt von ihrer Familie. Nicht einmal 17 Jahre alt, wird sie in Pommern mehrfach vergewaltigt, zunächst von einem russischen Offizier, der ihr am Ende die Faust ins Gesicht schlägt. Später wird das verletzte Mädchen von einem russischen Deserteur, Dimitrij, in einem Bunker unter der Erde liebevoll gepflegt.
Vergessen, verdrängen: Angesichts ihrer schweren Blessuren im Krieg fährt auch Elisabeth diese Strategie
Eine der stärksten Szenen beschreibt, wie Elisabeth im Winter 1945 in dem Bunker vor sich hindämmert und die Menschen Revue passieren lässt, die sie bislang begleitet haben, die Oma, die Mutter, die Brüder. Und sie stellt sich diejenigen vor, denen sie noch nicht begegnet ist, ihren künftigen Mann, die Kinder. Sie meint, die Schritte all dieser Menschen zu hören, wie sie sich langsam von ihr, der versehrten jungen Frau, entfernen, ohne Hoffnung, sie je aufzuspüren. In diesem Moment verspürt Elisabeth den Wunsch, nie wieder nach oben zurückzukehren, sondern „für immer mit Dimitrij in dieser Nacht leben wollte, in diesem warmen Frieden unter dem Schnee“.
Eine regressive Fantasie, ähnlich dem Wunsch nach der Rückkehr in den Mutterleib. Vergessen, verdrängen, nicht wahrhaben wollen: Viele, die im Krieg großes Leid erfuhren, halten sich an diese Strategie. Auch Elisabeth ist eine Verdrängerin, über ihre Vergewaltigung spricht sie später kaum. „Nach allem wollte sie nicht noch als Verletzte oder Erniedrigte betrachtet werden, nehme ich an“, kommentiert die Erzählerin. Offenbar kompensiert Elisabeth mit ihrem Lebenshunger die Blessuren aus der Vergangenheit.
Der Autor arbeitet mit harten Cuts, wenn er Szenen aus Elisabeths aufreibendem Leben gegeneinander schneidet. In einem Moment verfolgen wir ihre dramatische Fluchtgeschichte, im nächsten erleben wir sie als junge Frau der Nachkriegszeit, ihr fast trotziges Ringen nach dem kleinen Glück, das oft nur eine Zigarettenlänge Bestand hat. Eben noch war Elisabeth im Bunker, kurz darauf vergnügt sie sich bis zum frühen Morgen im Tanzschuppen. Mit den schnellen Wechseln und Cliffhangern sorgt der Autor für Tempo und Spannung.
[Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 304 Seiten, 24 €.]
Wenn Elisabeth und Walter Norddeutschland irgendwann den Rücken kehren und ins Ruhrgebiet ziehen, wo Walter als Kohlekumpel anfängt, zeigt sich Rothmann wieder einmal als Meister der Milieustudie – er hat diese Welt unter Tage schon häufig beschrieben. Doch auch seine Schilderungen des Lebens auf dem Land, der Welt der Kuhställe und Molkereien, wirken authentisch. Sicher kommt dem Autor hier zugute, dass er das Milieu aus der eigenen Familie kennt: Sein Vater Walter Rothmann hat im Norden als Melker gearbeitet, bevor er im Ruhrgebiet als Bergmann malochte.
Die Hauptfigur im Roman trägt den Namen von Ralf Rothmanns Mutter
Und wo wir schon beim Autobiografischen sind: Auch Rothmanns Mutter – die Elisabeth hieß, gebürtige Isbahner – ist gegen Ende des Krieges auf ihrer Flucht aus Westpreußen von einem Russen vergewaltigt worden. Nach dem Krieg suchte sie, genau wie Elisabeth im Roman, jede Art von Vergnügungen, wollte auf jedem Rummel tanzen – nur das Geld reichte oft nicht dafür. Und nicht zuletzt lassen sich in der Figur von Elisabeths Sohn Wolf, der Schriftsteller wird, Züge des 1953 in Schleswig geborenen Autors finden.
„Die Nacht unterm Schnee“ ist wie die beiden Vorgänger-Romane ein beeindruckend sinnlich geschriebenes Buch. Man könnte einwenden, dass die Charaktere, insbesondere Elisabeth und Walter, stellenweise zu stark typisiert sind, trotzdem wirken sie insgesamt farbig und kraftvoll. Elisabeth ist eine Lebenskünstlerin, die vor allem die Kunst beherrscht, andere zu ihrem Vorteil zu instrumentalisieren. Und sie ist ein Kriegsopfer, das aber selbst vor Gewalt und Handgreiflichkeiten nicht zurückschreckt.
Wahrscheinlich, sinniert ihr Sohn Wolf, hat das damals durchlittene Leid ihr das Gefühl dafür genommen, welches Leid sie anderen zufügt. Eine Entschuldigung ist das nicht, aber eine Erklärung.