Comics aus dem Buchmessen-Gastland Philippinen: Untote, Schmetterlinge und die Geister der Vergangenheit

Eine junge Frau, die nach ihrer Tötung durch ausländische Invasoren als blutrünstige Rächerin wiedergeboren wird. Ein Mädchen, das einen erbarmungslosen Aufstand gegen Vertreter der postkolonialen Oberschicht lenkt. Eine Mordermittlerin mit paranormalen Fähigkeiten, die sich auf die Untaten mythologischer Wesen spezialisiert hat …

In aktuellen Comics aus den Philippinen sind die Grenzen zwischen Realität und fantastisch-bedrohlichen Welten fließend. Unter der Oberfläche des Alltags lauern der Horror und die Geister der unbewältigten Vergangenheit: das schwere Erbe der spanischen Kolonisation, der japanischen Besatzung im Zweiten Weltkrieg sowie eine aus der traumatischen Landesgeschichte hervorgegangene soziale Spaltung.

Ein gutes Dutzend aktueller Graphic Novels und Comicserien aus den Philippinen kann jetzt auch auf Deutsch entdeckt werden. Zu verdanken ist das dem Mannheimer Dantes-Verlag. Der hat sein bislang vor allem mit Genrewerken aus dem englischsprachigen Raum wie „Usagi Yojimbo“ oder „Sláine“ bestehendes Programm in jüngster Zeit um Veröffentlichungen aus dem südostasiatischen Inselstaat erweitert. Die Philippinen sind in diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse (15. bis 19. Oktober), wo es ein erweitertes Comic-Programm geben soll.

In der internationalen Comicszene haben Zeichner aus den Philippinen schon länger einen herausragenden Ruf. Im US-Mainstream-Comic hinterließen Künstler wie Tony DeZuñiga („Jonah Hex“) und Alex Niño seit den 1970er-Jahren bleibende Spuren. Zahlreiche talentierte Zeichner aus dem Pazifik-Archipel begannen damals im Rahmen der „Filipino Invasion“ für Verlage wie DC Comics und Marvel zu zeichnen. Sie prägten etliche Serien, vor allem in Genres wie Horror, Fantasy, Science-Fiction oder Kriegscomics, und erweiterten die stilistische Vielfalt der US-Szene.

Während der Rest der Region in der einen oder anderen Form dem mächtigen Manga erlag, stand der Inselstaat aufgrund jahrelanger Kolonialherrschaft und Besatzung unter dem Einfluss Spaniens und Amerikas.

Der Comicexperte Tim Pilcher in seinem Standardwerk „The Essential Guide to World Comics“ über die philippinische Szene

„Komiks“, wie die Kunstform in den Philippinen geschrieben wird, haben auch im Land selbst eine lange Tradition – und eine im Vergleich zu anderen asiatischen Ländern ungewöhnliche Entwicklungsgeschichte. „Während der Rest der Region in der einen oder anderen Form dem mächtigen Manga erlag, stand der Inselstaat aufgrund jahrelanger Kolonialherrschaft und Besatzung unter dem Einfluss Spaniens und Amerikas“, fasst Tim Pilcher in seinem Standardwerk „The Essential Guide to World Comics“ zusammen.

Nach Angaben der Berliner Agentur Kulturkonzepte, die den diesjährigen Auftritt der Philippinen auf der Buchmesse mit betreut, sind Comics und Graphic Novels gegenwärtig bei den Verkaufszahlen der stärkste Bereich der philippinischen Literatur. Und in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“) war jüngst zu lesen, dass fast die Hälfte der aus Anlass der Buchmesse ins Deutsche übersetzten Bücher aus den Philippinen Comics sind.


Einer der stärksten Titel der aktuellen Auswahl ist die 2024 auf Deutsch veröffentlichte Graphic Novel „Strange Natives – Die vergessenen Erinnerungen einer vergesslichen alten Dame“ (Übersetzung Jens R. Nielsen, 170 S., 20 €).

Die von Gewalt und Ausbeutung geprägte Geschichte des Landes wird hier in Form der Erinnerungen der fiktiven Hauptfigur Grasya reflektiert, einer Antiquitätenhändlerin mit einer magischen Begabung.

In opulenten schwarz-weißen Bleistift- und Tuschezeichnungen mit gelegentlichem Aquarell- und Rasterfolien-Einsatz vermitteln Autor Paolo Herras und Zeichner Jerico Marte eine Welt im Spannungsfeld zwischen Anpassung an die herrschenden Verhältnisse und Selbstbehauptung.

Schmetterlinge als Schlüssel zur Erinnerung: Eine Seite aus „Strange Natives“.

© Dantes Verlag, Paolo Herras und Jerico Marte; Szen.: Paolo Herras, Illu.: Jerico Marte

Die großen Bögen der Nationalgeschichte werden hier am Beispiel von Grasyas Schicksal und dem ihrer Familie sehr anschaulich vermittelt. Erst waren die Philippinen mehr als 300 Jahre lang bis 1898 eine spanische Kolonie, dann etablierten die USA eine Kolonialherrschaft, während des Zweiten Weltkriegs besetzte Japan das Land – etwa 500.000 Filipinos wurden allein zwischen 1942 und 1945 von den Besatzern getötet.

Die japanische Besatzung und ihre Vor- und Nachgeschichte stehen im Fokus von  „Strange Natives“. Schmetterlinge sind für Grasya der Schlüssel zur Erinnerung. Immer wieder lösen die in Schwärmen auftauchenden Tiere bei ihr Gedankenströme aus. Es geht um Themen wie das Aufwachsen als dunkelhäutiges Mädchen in einer erst von Europäern und dann von US-Amerikanern dominierten Gesellschaft sowie die Gewalttaten der japanischen Soldaten gegen Zivilisten.

Das Cover von „Strange Natives – Die vergessenen Erinnerungen einer vergesslichen alten Dame“ (Übersetzung Jens R. Nielsen, 170 S., 20 €).

© Dantes Verlag, Paolo Herras und Jerico Marte; Illu.: Jerico Marte

So reichhaltig, dramatisch und abwechslungsreich wie die hier erzählte Geschichte sind auch die Bilderfolgen. Es gibt vor Detailfülle fast berstende Doppelseiten, die die Höhen und Tiefen des Lebens mitreißend vermitteln. Andere Panels sind radikal reduziert auf wenige Striche mit viel Weißraum.  

Stilistisch lassen sich in Jerico Martes dynamischen Zeichnungen Einflüsse der US-Comicästhetik ebenso finden wie Anklänge an die visuellen Traditionen Europas und Japans. All das verwebt der Künstler zu einem ganz eigenen Strich, der mit seiner fließenden, organisch wirkenden Linienführung perfekt für die Visualisierung der rauschhaft wirkenden Bewusstseinsströme der Hauptfigur ist.


Thematische Parallelen, aber ein ganz anderer Zeichen- und Erzählstil als „Strange Natives“ zeichnen die im Frühling 2025 veröffentlichte Graphic Novel „Josefina“ (Übersetzung Jens R. Nielsen, 124 S., 17 €) aus. Der Autor Russell L. Molina, der in den Philippinen ein geschätzter Schriftsteller ist, und der Zeichner Ace C. Enriquez erzählen darin eine Geschichte, die ebenfalls zu großen Teilen während der Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt.

Eine weitere Szene aus „Josefina“.

© Dantes Verlag, Russell L. Molina und Ace C. Enriquez; Szen.: Russell L. Molina, Illu.: Ace C. Enriquez

Das setzt Ace C. Enriquez mit tiefschwarzen, kantig gezeichneten Tuschebildern eindrucksvoll um, seine Panels erinnern streckenweise an expressionistische Holzschnitte. Naturalistisch gezeichnete Szenen wechseln sich mit dynamischen Actionszenen ab, in denen Josefina als menschliches Monster zuschlägt.

Schlachtengemälde: Eine Seite aus „Alandal“.

© Dantes Verlag, komiket inc; Szen.: J. Philip Ignacio, Illu.: Alex Niño

Vor dem Hintergrund der Machtkämpfe von christlichen Kolonisatoren, den Truppen eines lokalen Sultans und Piraten unterschiedlicher Couleur erzählt „Alandal“ in schwarz-weiß-grauen Bilderfolgen die Geschichte der Tochter eines spanischen Eroberers, die sich als talentierte Kämpferin in einer bedrohlichen Welt behauptet.

Das Cover von „Alandal“ (Übersetzung Jens R. Nielsen, 100 S., 22 €).

© Dantes Verlag, komiket inc; Illu.: Alex Niño

Eine einfache Lektüre ist „Alandal“ allerdings nicht. Das liegt vor allem daran, dass Niño im Gegensatz zu seinen früheren Arbeiten in vielen visuell komplexen Szenen hier nicht auf filigrane Bleistift- oder Fineliner-Zeichnungen setzt, sondern offenbar mit einem breiteren Layoutmarker gearbeitet hat.

Statt klarer Schwarz-Weiß-Kontraste setzt er zudem in den meisten Szenen auf eine Tönung in dunklen Graustufen. Das gibt den Bildern eine angemessen düstere Anmutung, macht es aber schwierig, alle Details und die unterschiedlichen Figuren zu identifizieren.


Der Comic mit dem wohl größten Wiedererkennungseffekt für ein breiteres Publikum ist die inzwischen auf drei Bände angewachsene Horror-Krimiserie „Trese“ (Übersetzung Jens R. Nielsen, je 144/184 S., je 18/20 €), deren dritter Band gerade auf Deutsch erschienen ist. Die Anime-Verfilmung der Reihe war vor einigen Jahren ein Netflix-Hit in zahlreichen Ländern, jetzt lassen sich die der Adaption zugrunde liegenden Geschichten von Budjette Tan (Story) und Kajo Baldisimo (Zeichnungen) hierzulande als Comic nachlesen.

Eine weitere Seite aus „Trese“.

© Dantes Verlag, Budjette Tan und KaJo Baldisimo; Szen.: Budjette Tan, Illu.: KaJo Baldisimo

Die Kurzgeschichten sind, wie auch die erst ab 18 Jahren freigegebene Netflix-Serie, nichts für Zartbesaitete. Die skrupellose Ermittlerin Trese geht in ihrer Arbeit in der von magischem Realismus durchdrungenen Metropole kaum weniger brachial vor als die aus der Mythenwelt in die Realität eingedrungenen Verbrecher, die sie am Ende einer jeden Geschichte ihrer Bestrafung zuführt. So arbeitet sie sich unter anderem an Ritualmördern, Kentauren und seelenfressenden Monstern ab.

Schmuckfarbe Blutrot: Eine Szene aus „Death Be Damned“.

© Dantes Verlag, Mike Alcazaren, Noel Pascual und AJ Bernardo; Szen.: Mike Alcazaren/Noel Pascual/AJ Bernardo; Illu.: AJ Bernardo/Josel Nicolas

Die kantigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen mit roter Zusatzfarbe von AJ Bernardo und Josel Nicolas erinnern mit ihren harten Kontrasten an Frank Miller („Sin City“), ebenso der lakonisch-zynische Erzählton der von Mike Alcazaren, Noel Pascual und AJ Bernardo entwickelten Story. Im Zentrum steht ein TV-Team, das bei einer Liveübertragung der Party einer wohlhabenden Oberschichtfamilie auf ihrer Hacienda Zeuge eines Massakers wird.

Die reichen Hacienderos werden zum einen von einer Horde Zombies attackiert, die von einem jungen Mädchen angeführt wird. Parallel wird auch noch eine menschliche Revolte gegen sie angezettelt. In hyperdynamischen Bildfolgen und von schwarzem Humor geprägten Textpassagen nimmt ein Gemetzel seinen Lauf, das stellenweise wie „The Walking Dead“ auf Speed anmutet.

Kampfhahn mit übernatürlichen Kräften: Eine Szene aus „Sa Wala“.

© Dantes Verlag, Renren Galeno; Szen./Illu.: Renren Galeno

Die Hauptfigur der von Autorin und Zeichnerin Renren Galeno geschaffenen Geschichte ist ein Kampfhahn mit übernatürlichen Kräften. In naturalistischen, erkennbar vom Manga geprägten und mit einem düsteren Grauschleier überzogenen Bildern erzählt sie, wie der Hahn das Leben des armen Taxifahrers Anding auf den Kopf stellt.

Das Cover von „Sa Wala – Für nichts“ (Übersetzung Jens R. Nielsen, 224 S., 22 €).

© Dantes Verlag, Renren Galeno; Illu.: Renren Galeno

Die dem Plot zugrunde liegende Gewalt wird hier kaum je direkt gezeigt. Viel wichtiger sind Renren Galeno, die im vergangenen Jahr für einen in der „Washington Post“ publizierten Comic sogar für einen Pulitzer-Preis nominiert war, die Beziehungen der Menschen, deren Leben sich durch die Ankunft des Hahns ändert. Dabei geht es um Themen wie sozialer Aufstieg, Mobbing und das menschliche Miteinander angesichts einer mysteriösen Bedrohung. Das entwickelt Galeno mit viel Gespür für Atmosphäre, ihre handwerklich souveränen Zeichnungen kommen seitenlang ohne Dialoge aus.


Um übernatürliche Vorgänge geht es auch in der Graphic Novel „Depikto“ (Übersetzung Jens R. Nielsen, 160 S., 22 €) von Ruvel Abril, die in einer Kunstgalerie mit surrealistischen Eigenschaften spielt und im Frühling 2025 auf Deutsch herauskam.

Das Cover von „Depikto“ (Übersetzung Jens R. Nielsen, 160 S., 22 €).

© Dantes Verlag und Ruvel Abril; Illu.: Ruvel Abril

Als sich die Handlung nach und nach aus der mysteriösen Galerie in bedrohliche Parallelwelten verlagert, die Verdrängtes und unbewältigte persönliche Konflikte der Hauptfigur zutage fördert, setzt Abril auf einen freieren, experimentellen Zeichenstil. Und nach einer intelligenten Plotwendung spielen Bilder in abstrakt-minimalistischer Form eine wichtige Rolle.


Wie es dazu kommt, dass es ausgerechnet ein kleiner Comicverlag wie Dantes ist, der in diesem Jahr mit dem Philippinen-Fokus der Frankfurter Buchmesse im Rampenlicht steht? „Aus dem Umfeld des literarischen Vereins Litprom wurden wir 2023 gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, Comics von den Philippinen zu verlegen“, sagt Walter Truck, Sprecher des Dantes-Verlages.

Verleger Josua Dantes habe sich daraufhin als Erstes „Alandal“ von J. Philip Ignacio und Alex Niño angeschaut und sei sofort begeistert gewesen. Kurz darauf erschien die deutsche Ausgabe. 2024 sei der Verleger dann auf die Philippinen eingeladen worden und mit vielen Impressionen und weiteren Comictiteln zurückgekommen, sagt Truck. Danach startete er die deutsche Ausgabe der Horror-Mystery-Reihe „Trese“.