In blauen Stunden
Zugegeben, Sigrid Nunez’ neuer Roman hat einen leicht enervierenden Hang zu Superlativen. Mal erinnert sich ihre namenlose Ich-Erzählerin an den „romantischsten Film“, der je gedreht worden ist, mal an das „traurigste Musical aller Zeiten“.
Das Ford-Maddox-Ford-Zitat „Das ist die allertraurigste Geschichte, die ich je gehört habe“ zieht sich sogar wie ein Refrain durch den Roman.
Und dann ist da noch das „wichtigste Gespräch“ im Leben der Ich-Erzählerin und ihrer ebenso namenlosen Freundin, von dem Nunez’ Roman „Was fehlt dir“ handelt. Von ihm und seinen Folgen. Denn die Freundin ist unheilbar an Krebs erkrankt und wild entschlossen, ihr Ende selbst zu bestimmen.
Das nötige Medikament hat sie schon besorgt, auch einen ruhigen Ort für ihre letzten Tage, ein Häuschen in Neuengland. Jetzt braucht sie nur noch jemanden, der ihr dort Gesellschaft leistet, und zwar ohne ihr ihr Vorhaben ausreden zu wollen.
Es geht in Nunez’ Roman also eher um einen Fall von Sterbebegleitung als um Sterbehilfe. „Ich verspreche, dass es ein so großer Spaß wie nur irgend möglich wird“, ermuntert die Freundin ihr Gegenüber, dem angesichts der Tragweite dieser Bitte die Worte fehlen.
2018 hatte Nunez mit “Der Freund” einen Bestseller
Tatsächlich wird es in dem Häuschen nicht nur Schmerz und Trauer geben oder überraschende Momente der Intimität und Liebe, sondern auch Momente absurder Komik. Gleich nach der Ankunft der beiden in Neuengland sitzt die Freundin heulend am Küchentisch. Man müsse noch einmal zurückfahren, sie habe die Tabletten zuhause liegenlassen.
Eine mittelalte Schriftstellerin ohne Namen als Ich-Erzählerin, konfrontiert mit dem Suizid eines Freundes, mit Trauer und Verlust – das erinnert nicht von ungefähr an Nunez’ Bestsellerroman „Der Freund“.
2018 katapultierte er die US-amerikanische Autorin mit chinesisch-panamaisch-deutschen Wurzeln im Alter von 67 Jahren in den literarischen Olymp, bescherte ihr sogar den National Book Award. Hierzulande erschien von Nunez mit „Sempre Susan – Erinnerungen an Susan Sontag“ zuletzt ein etwas älteres Werk, über jene Zeit, als die Autorin als Mittzwanzigerin zeitweilig in Sontags Upper West Side-Apartment lebte, erst als ihre Assistentin, später als Freundin von Sontags Sohn David Rieff.
Das passt insofern, als die namenlose Freundin in „Was fehlt dir“ einige Züge der amerikanischen Essayistin trägt, die 2004 ihrem Krebsleiden erlag. Man denke nur an die „Gewitterwolke aus Haar“, die sie vor ihrer Erkrankung hatte oder an die Einschätzungen der Ich-Erzählerin, ihre Freundin, eine „Journalistin“, sei „eine schwierige Frau“ und zugleich „die belesenste Person“, die sie kenne. Der deutlichste Hinweis ist freilich, wie vehement die Roman-Freundin die üblichen Sinnstiftungsangebote in Therapiegruppen ablehnt.
Nunez war mit Susan Sontag eng befreundet
Die Krankheit als Prüfung oder als Gelegenheit zu spirituellem Wachstum, weshalb man bis zuletzt kämpfen und auf ein Wunder hoffen müsse? „Ich meine, ernsthaft:“, kommentiert die Freundin bissig. „Wer will beim Sterben so einen Schrott hören?“ Im Unterschied zur todkranken Freundin bleibt Nunez’ Ich-Erzählerin lange Zeit bemerkenswert unscharf. Das hat viel damit zu tun, dass sie, was ihr Innenleben betrifft, recht zurückhaltend ist.
Zumal im ersten Teil, der wie ein langer Anlauf wirkt, ehe der Roman allmählich seinen Plot findet. Eher en passant erfährt man von einer vergangenen Schreib- und Lebenskrise, und Urteile wie das über die Tochter der Freundin (ein „unangenehmes Kind“) haben Seltenheitswert.
Als sie zu Beginn des Romans den Vortrag eines zufällig in der Stadt auftretenden Intellektuellen besucht, gibt sie zwar dessen Ansicht wieder, dass es für die Menschheit angesichts von Klimawandel, Bioterrorismus etc. keine Hoffnung mehr gibt, oder beschreibt die – eher gelangweilten – Reaktionen des Publikums.
Dass es sich bei der männlichen Kassandra aber um ihren Ex handelt, räumt sie erst hinterher ein. Immerhin erklärt dieser Umstand nachträglich ihre bissigen Bemerkungen über die verzweifelten Bemühungen der nicht mehr ganz so jungen Moderatorin, noch immer sexy zu wirken.
Seitenhieb auf MeToo?
Generell aber gilt: Nunez’ Erzählerin interessiert sich sympathischerweise mehr für andere als für sich. Ein ums andere Mal kommt sie in ihrer kontemplativ-kristallklaren, mit den Einsichten der modernen Sprachskepsis bewehrten Prosa vom literarischen Hölzchen aufs philosophische Stöckchen, meist getriggert von Erinnerungen an Zufallsbegegnungen, Gelesenes oder Filme.
Ihr kultureller Kosmos ist dabei weit gespannt. Er reicht von Walter Benjamin bis Ingeborg Bachmann, von Albert Camus bis Ulrich Seidls Doku „Jesus, du weißt“ und lässt sie immer wieder zitierfähige Einsichten formulieren wie: „Sterben ist eine Rolle wie jede andere auch, die wir im Leben spielen: Das ist ein beunruhigender Gedanke. Man ist nie sein wahres Selbst, außer, wenn man allein ist – aber wer will schon allein sein, beim Sterben?“
Auffallend ist freilich, wie oft es in den Erinnerungen der Erzählerin um Frauen „ab einem gewissen Alter“ geht, um ihre Erfahrungen von Verlust in einer misogynen Gesellschaft. Wie im Gespräch mit einer „einst schönen Frau“ im Fitnessstudio, die eines Tages verstört feststellen muss, längst so unsichtbar geworden zu sein, dass sie sich nach einem jener Catcalls sehnt, die sie früher so empört haben. Ein Seitenhieb von Nunez auf die Auswüchse der MeToo-Bewegung?
Es ist eine der allertraurigsten Geschichten
Die amerikanische Kritik hat Nunez’ ebenso eindrucksvolle wie unverwechselbare Erzählstimme, die sich fortwährend zum Medium der Leiden anderer macht, mit Rachel Cusks „Outline“-Trilogie in Verbindung gebracht. Doch lassen verschachtelte Erzählkonstruktionen wie „Jedes Mal, wenn ich sie besuche, erzählte er mir, sagt sie zu mir …“ ebenso an W.G. Sebald denken.
Patin für den Titel des Romans stand dagegen die französische Philosophin Simone Weil mit ihrem Ideal der rechten Aufmerksamkeit, die Nunez als Motto dient: „Die Fülle der Nächstenliebe besteht einfach in der Fähigkeit, den Nächsten fragen zu können, welches Leiden quält dich?“
An der Seite ihrer sterbenden Freundin wird Nunez’ Erzählerin erfahren, was es mit dieser rechten Aufmerksamkeit auf sich hat. Wir verdanken der amerikanischen Literatur schon einige große Bücher über Tod und Sterben, Harold Brodkeys „Die Geschichte meines Todes“ zum Beispiel oder Joan Didions „Das Jahr magischen Denkens“ und „Blaue Stunden“.
In unserer pandemischen Gegenwart setzt nun Sigrid Nunez die Reihe mit einem berückend empathischen Roman über Einsamkeit und Endlichkeit, Freundschaft und Fürsorge fort. „Mein Herz schlägt voller Angst“, lässt sie ihre zum Schluss immer behutsamer ihre Worte setzende Ich-Erzählerin sagen. „Bald wird es zu Ende sein, dieses Märchen. Diese traurigste aller Zeiten, die auch eine der glücklichsten Zeiten meines Leben gewesen ist, wird vorbei sein.“