Wie Alice ins Wunderland kam
Ein Mädchen trifft ein sprechendes weißes Kaninchen, folgt ihm in seinen Bau, fällt in einen Schacht und landet in einem Saal mit vielen Türen. Mit einem Schlüssel öffnet es die kleinste Tür, schlüpft hindurch, begegnet einer grinsenden Katze und feiert eine Teeparty beim verrückten Hutmacher. Das Mädchen heißt Alice, und das Buch über ihren Besuch im Wunderland, das der Schriftsteller Lewis Carroll 1865 veröffentlichte, gehört bis heute zu den populärsten Werken der Kinderliteratur.
Logik auf den Kopf gestellt
„Alice im Wunderland“, dem Carroll 1871 die Fortsetzung „Alice hinter den Spiegeln“ folgen ließ, ist ein Märchen, in dem die Regeln der Logik auf den Kopf gestellt sind. Um ins Wunderland zu gelangen, muss die Heldin auf die Dimensionen eines Insekts zusammenschrumpfen, später wächst sie zu elefantenhafter Größe. Die Metamorphosen wechseln. Als sie von einer Raupe gefragt wird: „Wer bist denn du?“, antwortet Alice: „Ich weiß es selbst kaum. Ich muss seit dem Aufstehen heute früh wohl mehrere Male vertauscht worden sein.“
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Wahrscheinlich gibt es niemanden, der sich besser mit Alice und ihrer Welt auskennt als Peter Hunt. Der emeritierte Literatur-Professor an der Universität Cardiff schildert in seinem Buch „Die Erfindung von Alice im Wunderland“ die Entstehungsgeschichte des Klassikers und gräbt sich tief hinein in den verwinkelten Kaninchenbau von Carrolls Text. „Es gibt kaum einen Satz“, schreibt er, „der nicht mehrere Bedeutungen, vielerlei Scherze, verschlüsselte Anspielungen auf intellektuelle, politische und persönliche Dinge transportieren würde“.
Bootsfahrt mit Mädchen
Lewis Carroll hieß eigentlich Charles Dogson und war Mathematiker, ein Mann der Logik. Er studierte am berühmten Christ-Church-College in Oxford und wurde dort als Tutor angestellt. Der 4. Juli wird bis heute in Oxford als „Alice’s Day“ gefeiert, gewissermaßen als Geburtstag der „Wonderland“-Geschichte. An diesem Tag des Jahres 1862 unternahm Dogson (damals 29) zusammen mit seinem Freund Robinson Duckworth und drei Töchtern des Dekans von Christ Church, Lorina (13), Alice (10) und Edith Liddell (8), einen Bootsausflug auf der Themse bei Oxford. Die Mädchen wollten eine Geschichte hören. Und Dogson, der bereits einige Beiträge für Familienzeitschriften geschrieben hatte, begann zu erzählen. Zuhause angekommen, brachte er die Geschichte zu Papier, versah sie mit eigenen Illustrationen und schenkte sie Alice. Der Titel: „Alice’s Adventures Under Ground“.
Während der Bootstour soll Duckworth sich zu Dodgson umgedreht und ihn gefragt haben: „Ist das eine Stegreifgeschichte von dir?“. Dogson: „Ja, ich erfinde sie, während wir fahren.“ Gegen diese Legende spricht, dass das Wetter an jenem Tag nicht wie behauptet „golden“, sondern nasskalt war. Und wie lange müssen die Ausflügler unterwegs gewesen sein, um einem Abenteuer zuzuhören, das in der deutschen, von Christian Enzensberger übersetzten Version 128 Seiten umfasst? Hunt glaubt, dass „Wunderland“ aus einem Konglomerat von Geschichten entstand, „die anlässlich mehrerer Flussexkursionen erzählt wurden“.
Lewis Carroll wusste vor allem, was er nicht wollte: erzieherisch wirken, moralisch ermahnen. Das unterscheidet seine „Alice“ von nahezu allen anderen Kinderbüchern, die seinerzeit in Umlauf waren. Hunt spricht von einer „bis zur Anarchie reichenden Parteinahme für den kindlichen Leser und die kindliche Leserin“. Am Anfang der Geschichte ist Alice von einem Buch gelangweilt, in dem „nirgends darin Bilder oder Unterhaltungen abgedruckt“ seien. Solche Bücher, findet sie, seien völlig zwecklos. In ihrem eigenen Abenteuer wird sie dann ständig absurde bis philosophische Unterhaltungen führen, mit Frosch-Lakaien, einer Feuerlilie oder der Grinsekatze. Bilder dazu lieferte John Tenniel, einer der bissigsten Karikaturisten der Epoche. Sein übermütiges Hündchen, das mit Alice spielt, könnte Charles Darwin porträtieren, der auf der “HMS Beagle” zu seiner Forschungsreise aufgebrochen war.
Spott auf Schwarze Pädagogik
Die Seitenwände des Schachts, durch den Alice hinabstürzt, bestehen aus Bücherregalen und Wandschränken. Hunt identifiziert viele Bücher, die in Carrolls Regal gestanden haben dürften, die der Schriftsteller kannte und persiflierte. Neben Sammlungen religiöser Lieder gilt sein Spott vor allem den „Schreckenswarnungen“ aus Bestsellern wie „The Fairchild Family“ (1818). Dort werden Kinder zu einem Galgen geführt, um zu erkennen, wohin Streit führen kann. Was Spaß macht, gilt dieser Schwarzen Pädagogik als schädlich und gehört verboten. Alice hingegen trinkt aus einem Fläschchen mit der Aufschrift „Trink mich!“ und isst von einem Kuchen mit der Aufschrift „Iss mich!“, um ins Wunderland zu gelangen. Sie tut es unbekümmert, weil die Warnung „Vorsicht! Gift!“ fehlt.
[Peter Hunt: Die Erfindung von Alice im Wunderland. Wie alles begann. Aus dem Englischen von Gisella M. Vorderobermeier, wbg Theiss, Darmstadt 2021, 128 Seiten, 28 €]
Lewis Carroll war ein Fotopionier, der 1856 seine erste Kamera kaufte. Er porträtierte Berühmtheiten wie den Dichter Alfred Lord Tennyson oder den Maler Dante Gabriel Rossetti und viele kleine Mädchen. Auch Alice Liddell posierte für ihn. Carroll beschrieb sie als „eine, die über Jahre meine ideale kindliche Freundin war“.
Spekulationen über Pädophilie
Ihre Freundschaft endete abrupt. Warum, ist unklar. Die Briefe, die Carroll Alice schrieb, soll Alices Mutter vernichtet haben. Inzwischen steht der Schriftsteller im Verdacht, pädophil gewesen zu sein. Einen Beleg dafür gibt es nicht. Laut Peter Hunt handelt es sich um „halbseidene Spekulationen“.