Aufbruch am Abgrund
Das ist wahrscheinlich eine wirklich interessante, intensive Inszenierung, mit der das Theatertreffen im Livestream eröffnet wurde. Respekt vor den Züricher Akteuren, sie schlagen sich als digitale Versuchskaninchen sehr gut. Regisseur Christopher Rüping – auch das ist neu und notwendig im Pandemie-Betrieb – gibt eine Einführung, erklärt die Kameratechnik und versucht erst gar nicht, die Sache zu beschönigen. Es geht halt nicht anders, wie gern wären sie alle nach Berlin gekommen. Und so läuft die Aufführung aus der großen Schiffbau-Halle über die Bildschirme und hinterlässt starke Eindrücke – so weit man das in dieser hybriden Form überhaupt beurteilen kann.
Zu anderen Zeiten wäre es sehr wahrscheinlich ein gelungener Theatertreffen-Auftakt im Festspielhaus gewesen mit „Einfach das Ende der Welt“, einem 1990 uraufgeführten Stück von Jean-Luc Lagarce, später auch erfolgreich verfilmt. Eine bittere Familiengeschichte mit komischen Partien, eine Parabel über Sprachlosigkeit, Angst vor Gefühlen, Verdrängung, Neid und Eifersucht, Sehnsucht nach Nähe und gemischten Kindheitserinnerungen. Nichts Ungewöhnliches. Normales Familienleben, in das nach langen Jahren ohne Kontakt der todkranke Sohn und Bruder, ein schwuler Künstler, einfällt wie ein Brandbeschleuniger.
Eine Familie zerlegt sich
Man sieht, dass die Aufführung aus Improvisationen und Ensemblegesprächen hervorgegangen ist. Dabei ist das inzwischen nicht mehr seltene Phänomen zu beobachten, dass das analoge Theater das Digitale schon verinnerlicht hat. Wie oft hatte man in den Theaterhäusern zuletzt das Gefühl, mit den Schauspielern in einer Art Studio zu sitzen, mit Wackelkamera und Close-ups, was aber nicht zu größerer Intimität führte, sondern Distanz erzeugte. Es dauert im Züricher Theatertreffen-Livestream eine ganze Weile, bis sich die Familie auf der leeren Bühne eingespielt hat und vor allem die immer schmerzlicheren Szenen von Sohn und Mutter Wirkung zeigen. Benjamin Lillie und Ulrike Krumbiegel umkreisen das Unsagbare, Unerträgliche mit feiner Motorik und Sensibilität. Das spielt sich nicht leicht – und dann auch noch ohne Publikum!
Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, geht voran. Ein Festival zu eröffnen, das keines ist, keines sein kann, gehört zu den harten Jobs, um die man niemanden beneidet. Oberender findet ein passendes Bild, er spricht nervös von „Aufbruch und Abgrund“, von einem „positiven Schub“ in der Krise, von „neuen Standards“. Dabei mischt sich Zweckoptimismus mit Bekräftigungen in eigener Sache. Tatsächlich haben sich die Berliner Festspiele in den vergangenen Jahren mit ihren modisch-immersiven Programmen auch ohne Pandemie schon ein ganzes Stück aus dem traditionellen Erlebnisbereich entfernt.
Wo geht das Theater hin? Darüber konnte das Theatertreffen immer wieder Auskunft geben, eine gewisse Orientierung. Etwas mehr Skepsis und weniger digitaler Enthusiasmus wäre schon wichtig, sonst wird es ein Aufbruch schnurstracks in den Abgrund hinein. Wie Yvonne Büdenhölzer, die Leiterin des Theatertreffens, sagt: „Festivals sind das Gegenteil von Lockdown und Distanz“. Kulturstaatsministerin Monika Grütters stellte in ihrem Grußwort aus heimischer Kulisse die einzig relevante Frage: „Wann geht es wieder los?“
Das schlechte Wetter hilft
Ja, wann ist das vorbei, wann geht man wieder unter Menschen? Wer will in einem „digitalen Festspielgarten“ herumwandern nach einem Arbeitstag vor dem Bildschirm? Schwacher Trost: Das Wetter ist mies, man würde mit dem Glas Wein bloß im Regen stehen. Nun sitzt man zu Hause, die Internetverbindung schwächelt, und wenn das Gesicht des verzweifelten Heimkehrers wieder auf dem Laptop auftaucht, ist man mal kurz draußen auf dem Balkon gewesen oder am Kühlschrank. So macht es sich das Publikum bequem – und am Ende immun gegen die Bilder und die Worte, die aus dem Rechner kommen.
Das Symbol des Eröffnungsabends und der kommenden digitalen Theatertreffen-Abende war der Musiker Danger Dan, allein auf der weiten Bühne des Festspielhauses mit seinem tristen Sprechgesang. Und das Ganze auch noch als Aufzeichnung. Ein Stich ins Theaterherz! Der Gedanke, ob es nicht besser wäre, auf diese Kompromisse ganz zu verzichten, kommt da nicht zum ersten Mal.
Das Leben mit Corona ist voller Schwundstufen und schlimmerer Verluste. Wie schön, dass die Berlinale im Juni Filme unter freiem Himmel verspricht. Dann kann auch wieder von einem Festival die Rede sein. Bis dahin muss man sich durchklicken.