Jens Harders Bilderzählung „Gamma“: Hiobsbotschaften aus der Zukunft

Als die Menschen merken, was sie ausgelöst haben, ist es zu spät. Im Jahr 2093 wird das erste Land der Erde von einer Künstlichen Intelligenz regiert, danach übernehmen selbstbewusste Algorithmen sukzessive die Kontrolle über den ganzen Planeten. Um 2530 verlassen die letzten Menschen die Erde, um ihr Glück im All zu suchen.

Jens Harders Bilderzählung „Gamma“ beginnt dystopisch in der nahen Zukunft – und ein Happy End gibt es auch in den folgenden 100 Milliarden Jahren nicht. Diesen Zeitraum umspannt der Berliner Künstler im vierten und letzten Band seiner „Großen Erzählung“, die er vor gut 20 Jahren begonnen hat.

Tausende Bilder aus allen Epochen der menschlichen Kultur und der Wissenschaften hat der 1970 geborene Harder für die ersten drei Bände seines Mammutwerks zusammengetragen. Dann hat er sie in seinem Stil abgezeichnet, daraus eine ganz eigene Erzählung komponiert und in Verbindung mit kurzen, einordnenden Texten zu einem Bilderbogen der Erdgeschichte verarbeitet.

Potpourri an Fundstücken aus der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte: Eine weitere Seite aus „Gamma“

© Jens Harder/Carlsen-Verlag

Wie in den Vorgängerbänden gibt es zwar auch diesmal wieder ein Potpourri an visuellen Fundstücken aus der Menschheitsgeschichte, die Harder für sein eigenes Narrativ verarbeitet hat. In diesem Fall hat er seine Bildersammlung aber so zusammengestellt und durch neu erzeugte Bilder ergänzt, dass sich daraus ein mögliches Szenario für die Zukunft des Planeten ergibt, dessen Vergangenheit er zuvor so akribisch veranschaulicht hat.

Ästhetisch eint die für „Gamma“ konstruierten Bilderfolgen eine verwaschen wirkende, reduzierte, teilweise brüchig und pixelig wirkende Schwarz-Weiß-Optik, ergänzt durch eine kühl wirkende bläuliche Schmuckfarbe als einzige Kolorierung. Auf den ersten Blick sieht es aus, als habe Harder die Bilder allesamt mit demselben Filter am Computer bearbeitet.

Im Kontext des Inhalts des Buches vermittelt das ein wenig die Anmutung, als habe hier eine Künstliche Intelligenz eine Bildersammlung zusammengestellt und mithilfe einer instabilen, nur sehr komprimierte Daten zulassenden Verbindung aus der fernen Zukunft vermittelt.

Ich fragte mich, wieso sollte ich digitale Vorlagen manuell zeichnen, wenn die Zukunft doch immer stärker und in einigen hundert Jahren komplett maschinenbasiert ist.

Jens Harder

„Die Bilder in ‚Gamma‘ sind alle am Computer gefertigt, aber nicht mit einem Filter, sondern step-by-step, händisch, in einer Art optimierter Abfolge, die ich im Vorfeld entwickelte und bei der ich jedes Bild einzeln behandelte“, erklärt Harder im Gespräch mit dem Tagesspiegel sein Vorgehen.

Beim Arbeitsprozess an „Gamma“ spielte tatsächlich auch KI eine Rolle, wie Harder erklärt. Auch deswegen habe er sich diesmal dagegen entschieden, die Bildvorlagen in seinem eigenen Strich umzusetzen: „Ein gewisser Teil der verwendeten Bilder wurde durch Bildgeneratoren wie Midjourney oder StableDiffusion erzeugt“, sagt er: „Dazu kommen dann – wie in den vorherigen Büchern der Serie – die vielen Fundstücke und Zitate.“

All das wieder in seinem eigenen Zeichenstrich zu adaptieren, wäre zwar auch diesmal möglich gewesen. „Aber ich fragte mich, wieso sollte ich digitale Vorlagen manuell zeichnen, wenn die Zukunft doch immer stärker und in einigen hundert Jahren komplett maschinenbasiert ist.“ Es wäre aus seiner Sicht unpassend gewesen, „aus dieser Zukunft zu berichten, aber alles handgemacht und dadurch irgendwie vertraut und geerdet wirken zu lassen“.

Ambivalentes Verhältnis zur KI

Sein eigenes Vorgehen sieht Harder auch vor dem Hintergrund der wachsenden Kritik vieler Künstlerinnen und Künstler am Einsatz von KI zur Bilderzeugung allerdings durchaus ambivalent, wie er sagt: „Ansonsten bin ich ja auch stets ein großer Verfechter des Handgezeichneten, der Originalzeichnung.“

Seit Jahren argumentiere er strikt gegen die Verwendung von Bildgeneratoren und signiere jede Petition, die sich um deren stärkere Reglementierung und Kennzeichnung kümmert. „Aber speziell bei diesem Buch ging es mir um das Maximum an Wirkung, um eine Visualisierung dessen, was sich ergibt, wenn das Primat der Entwicklung nicht mehr in biologischen Händen liegt.“

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Strukturiert wird der Bilderfluss durch sachliche, technisch klingende Texte, die sich anfangs wie kurze nachrichtliche Mitteilungen lesen und im Laufe des Buches zunehmend wie aus einer nichtmenschlichen Quelle stammend klingen. Mit wachsender Entfernung zur Gegenwart weisen sie zudem immer mehr Satz- und Rechtschreibfehler auf, dazu kommen Leerstellen und gelegentlich kryptische Begriffe, die den Eindruck verstärken, man habe hier Fragmente von Hiobsbotschaften aus der Zukunft vor sich.

Zeitlich umfasst Harders Blick in die digitale Glaskugel die gesamte Zukunft der Erde und des sie umgebenden Universums, dessen Ende Harder in rund 100 Milliarden Jahren ansiedelt, aufgeteilt in acht Kapitel.

„Mir ist völlig klar, dass mein Unterfangen, die Zukunft zu beschreiben, nur zum Scheitern verurteilt sein kann“, sagt Jens Harder über sein Projekt.

© Jens Harder/Carlsen-Verlag

Ein faszinierendes Gedankenspiel, das nach der ersten Irritation bezüglich der von Harder gewählten grafischen und sprachlichen Darstellungen zum Nachdenken anregt. Zum Beispiel über die Frage, an welcher Stelle der Erdgeschichte die Menschheit einen anderen Weg hätte einschlagen sollen, um die von Harder als ein mögliches Szenario anschaulich gemachte katastrophale Entwicklung zu vermeiden.