Literatur als Erkenntnis: Kritikerin Sibylle Cramer ist tot

Literatur war für sie das Instrument eines Denkens, das es mit der Philosophie aufnehmen können musste. Sie durfte sinnlicher, spielerischer und sprachverliebter sein als die eleganteste Wissenschaftsprosa, aber sie sollte auch in der fantastischsten Entgrenzung einem klaren Erkenntnisinteresse verpflichtet bleiben.
Ob die Kritikerin und Essayistin Sibylle Cramer die jeanpaulhaften Wucherungen von Brigitte Kronauers Romanen pries oder die nüchterne Daseinsfeier von Inger Christensens Lyrik untersuchte – ihr lag daran, die texterzeugenden Mechanismen so genau wie möglich nachzuvollziehen, und das auf einem journalistischen Niveau, das im Zweifel akademischen Standards genügt.
1941 in Niederschlesien geboren, hatte sie Germanistik und Romanistik in Heidelberg, Berlin und München studiert. Insbesondere die französische Literatur lag ihr am Herzen. Wenn sie selbst auch eher ein zerebraler, auf Distanz bedachter Typus war, spürte sie hinter der Intellektualität von Claude Simon, einem ihrer Lieblingsautoren, doch genau, welche mitunter brutale, obsessive Körperlichkeit in seinen Romanen waltet.
Ihren ersten Text für den Tagesspiegel, eine Doppelrezension von zwei Bänden des Dichters Yves Bonnefoy, schrieb Sybille Cramer 1994. Ihre langjährige Heimat aber fand sie in der „Süddeutschen Zeitung“, wo sie im Literaturblatt für Wolfgang Werth zu schreiben begann.
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In den Anfängen der 1975 gegründeten SWR-Bestenliste, die seinerzeit noch im Fernsehen diskutiert wurde, kämpfte sie oft löwinnenhaft für ihre Autoren. Später überwog die Vornehmheit der Dame, die ihr Talent zu Spott und Sarkasmus nicht verlernt hatte, von den Widrigkeiten des Lebens aber sichtlich in Mitleidenschaft gezogen war.
Über Jahre hatte Sybille Cramer ihren im September 2023 verstorbenen Mann, den TU-Mediävisten Thomas Cramer, zu Hause gepflegt und unternahm, solange es noch ging, mit ihm Spaziergänge durch Friedenau.
Ihre ganz persönliche Freiheit feierte sie mit Ausflügen in die Philharmonie. Sie war eine urteilssichere Kennerin des klassischen Konzertbetriebs – und eine erbitterte Gegnerin ergriffenheitsbeseelter Musikkritiken. Wer weiß, was auch auf diesem Gebiet aus ihr hätte werden können.