Springteufel in der ersten Reihe: Joshua Bell dirigiert das Deutsche Symphonie-Orchester

Wozu gibt es eigentlich Dirigenten? Wer sich diese Frage öfter stellt, bekam am Samstagabend in der Philharmonie einige Antworten. Der amerikanische Geiger Joshua Bell war zu Gast beim Deutschen Symphonie-Orchester, das er erstmals auch dirigiert hat, wobei er in verschiedene Rollen schlüpfte.

Bell ist so etwas wie der Tom Cruise der klassischen Musik: seit 40 Jahren dabei, ebenso viele Alben, und immer noch wirkt er fast jungenhaft und nonchalant. Seit einiger Zeit probiert er sich auch in der Leitung von Orchestern aus, und so sitzt er jetzt auf dem Konzertmeisterstuhl, während Beethovens Egmont-Ouvertüre erklingt – das einzige regelmäßig gespielte Überbleibsel der Schauspielmusik zu Goethes Drama über den Freiheitskampf der Niederlande.

Fast alberne Verrenkungen

Allein, das Orchester ist bei Beethoven eigentlich schon zu groß besetzt. Die viel schlankeren barocken Ensembles konnten gut und vergleichsweise diskret vom ersten Geiger geleitet werden. Bell muss aber jetzt schon enorme, fast alberne Verrenkungen vollführen, auf seiner Stradivari spielen und gleichzeitig die Impulse geben. Das sieht dann aus, als säße da ein Springteufelchen in der ersten Reihe.

Den Musikern allerdings macht’s Spaß, die Ouvertüre gerät knackig und hochdramatisch, natürlich auch wegen der Generalpause, die den Tod des Helden markiert – dessen Vermächtnis, so kündigt es das Blech an, gleichwohl weiterleben wird. Dass aber dieses Konzept des Leitens spätestens ab 1800 keine Zukunft mehr hat und ein separater Dirigent nötig ist, wird mehr als deutlich.

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Bei Mendelssohns Violinkonzert steht Bell dann als dirigierender Solist vor dem Orchester. Er ist allerdings, verständlicherweise, so sehr auf seinen Solopart konzentriert, dass insgesamt nur wenige, kurze Phasen bleiben, in denen er wirklich dirigiert – die dann wohl auch eher symbolisch gemeint sind. Eigentlicher dürfte das Orchester vor allem auf Konzertmeister Wei Lu hören.

Ganze Passagen saufen ab

Bell präsentiert eine eigene Kadenz, die ja bei Mendelssohn schon sehr früh im ersten Satz kommt. Die raschen Passagen aber sind seine Sache nicht, da wird es – obwohl er das Werk nach eigener Aussage „mit gefühlt 500 Dirigenten“ aufgeführt hat – schnell schluderig, es mangelt an Prägnanz, ganze Passagen saufen ab. Sehr viel mehr Liebe und Aufmerksamkeit widmet er dem langsamen zweiten Satz, hier erfüllt er jeden Ton mit Leben.

Kein Konzert ohne Komponistin: Das schwelgerische, etwas simple vierminütige Orgelstück „Adoration“ von Florence Price in einer Bearbeitung für Streichorchester und Solovioline sollte ursprünglich den zweiten Konzertteil nach der Pause eröffnen, wird jetzt aber als Zugabe vorgezogen – und wirkt auch so: dazugegeben.

Der 1887 geborenen Amerikanerin wird das nicht unbedingt gerecht.

Natürlich ist es sinnvoll, das Publikum mit der Nase auf völlig unbekannte Komponistinnen zu stoßen. Aber wenn schon, denn schon: Price soll 300 Werke geschrieben haben, darunter vier Symphonien und ein Klavierkonzert. Warum führt man nicht ein großes Stück von ihr auf? So wirkt es eher wie ein Abfrühstücken.

Mit Beethoven kann man das natürlich nicht machen, auch wenn seine 4. Symphonie einen schweren Stand hat zwischen den beiden großen Brüdern, der Dritten und der Fünften. Rätselhaft mäandern die Tonarten im trüben Beginn, das „b“ wird in den Bläsern als Hauptton gesetzt und sofort im zweiten Takt von einer Unterterz in den Streichern in seiner Dominanz geschwächt.

Joshua Bell steht jetzt vor dem Orchester, ohne Pult und Taktstock, als wolle er immer noch einer von ihnen sein. Dann der Finalsatz: Umflort vom Rausch der wahnwitzig schnell wirkenden Streichersechzehntel biegt das Orchester auf die Zielgerade ein. Ist doch ganz gut, wenn da ein richtiger Dirigent vorne steht.