„Glitzer“-Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe: Sternenglanz im Kinderzimmer, Stärkung für die Abgedrängten
Auf Hosen, Schuhen, Jacken funkelt es nur so vor Pailletten und Strass. In der Warteschlange vor der Kasse des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe ist sehr schnell zu erkennen, wohin es hier die meisten zieht: in den ersten Stock des gewaltigen historistischen Gebäudes zur Glitzer-Ausstellung. Kaum zu glauben, aber das Museum widmet weltweit als erstes Ausstellungshaus dem flirrenden Material eine eigene Schau. Wie richtig es damit liegt, zeigt das große Interesse.
Die Kuratorinnen Nina Lucia Groß und Julia Meer gehen es von beiden Seiten an: als ernsthaftes Thema und spielerisches Moment. Die Timeline im Vorraum führt die Geschichte bis in die frühe Vorzeit zurück. Schon Neandertaler nutzten etwa 50.000 vor Christus schimmernde Mineralien, um sich vermutlich damit zu schminken.
Wie gut ihnen das stand, erkannten auch die alten Ägypter, allen voran Kleopatra, und tupften sich zermahlene Käferflügel ins Gesicht. Als Glitzer-Schminke in der Renaissance erneut in Mode kam, führte dies allerdings zur Dezimierung ganzer Käferarten.

© Xenia Curdova
Doch die Ausstellung ist weniger an einem Sternschnuppen-Ritt durch die Historie interessiert als an einer Darstellung der Nahbarkeit des Materials und seiner Bedeutung. Jeder kann es tragen, niemand, der nicht eine Meinung dazu hat. Glitzer polarisiert, macht aufmerksam, hebt heraus.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.
Glitter-Bombing: ein politischer Akt
Seit einigen Jahren steht der funkelnde Glanz nicht nur für Glamour, Showeffekt und kindliche Gelüste, sondern auch für Empowerment und dient der politischen Meinungsbekundung. 2019 bewarfen Demonstrierende den Sicherheitsminister von Mexiko City mit pinkem Glitter, nachdem die Vergewaltigung einer jungen Frau durch Polizisten folgenlos geblieben war. Als sie – und nicht die Täter – daraufhin angezeigt wurden, gingen Tausende auf die Straßen.
In der Ausstellung sind beeindruckende Aufnahmen der argentinischen Fotografin Gisela Vola aus dem Vorjahr zu sehen von Demonstrantinnen der „Grünen Welle“, einer lateinamerikanischen Bewegung für das Recht auf Abtreibung. Die mutigen jungen Frauen tragen grüne Tücher um den Hals und einen glitzernden Venusspiegel ums rechte Auge gemalt.
Glitzer entfaltet seine Wirkung erst in der Menge, das macht die Ausstellung auch an diesem Beispiel klar. Zugleich ist er eine höchst individuelle Angelegenheit, speichert Erlebnisse und Erinnerungen. Zu den schönsten Kapiteln der überbordenden Präsentation gehört die „Hall of Glitter“. Zur Vorbereitung der Ausstellung gab es einen Open Call für glitzernde Lieblingsdinge, hundert Beispiele funkeln auf schimmerndem Lavagestein um die Wette.
Da wäre das sorgfältig aufbewahrte Glanzbildchen einer älteren Dame, das diese in den 1940er Jahren von ihrer Klassenlehrerin für besondere Leistung erhielt. Oder die ausgelatschten Espadrilles mit Strass, von denen die Besitzerin gleich zwei weitere Paare erwarb, weil sie ahnte, wie vergänglich das Schuhwerk mit den geflochtenen Sohlen ist.

© Sarah Van Dyck, Ausstellung “Glitzer” im Museum für Kunst und Gewerbe
Das feuerrote Turnierkleid einer Latino-Tänzerin rührt sofort. Erst mit dem Aufstieg in die C-Klasse darf man Glitzer tragen, und so klebte sie selbst nach erreichtem Ziel in stundenlanger Arbeit Stein um Stein mit einer Pinzette auf ihr Outfit. Eine ähnliche Begebenheit erzählt das Kleid einer Hamburger Schülerin. Um ihrem Star Taylor Swift noch näher zu sein, schneiderte sie für den Konzertbesuch im vergangenen Jahr das Kostüm der Sängerin nach.
Der befranste Traum in Blau befindet sich in der Abteilung „Sparkle and Shine“, daneben die spacige Jacke, die Bill Kaulitz 2010 auf der „Humanoid“-Tournee von Tokio Hotel trug. Der extravagante Look mit den vielen Glitzersteinen verrät, dass sich der Sänger exponieren wollte und zugleich zu verstecken suchte. Auch dieser Widerspruch ist dem Material eingeschrieben.
Glitzer kann laut, übertrumpfend, penetrant sein, zumal er noch hinterher in allen Ritzen steckt. Aber er besitzt auch einen empfindsamen Appeal, den die Aufnahmen des amerikanischen Fotografen Quil Lemons zart vermitteln.
Der 28-Jährige arbeitet inzwischen für die „New York Times“ und „Vogue“, bekommt eigene Ausstellungen im Museum. Aber während seines Studiums porträtierte er im Wohnheim unter dem Titel „Glitterboy“ sehr vorsichtig seine Freunde: silbriger Schimmer auf schwarzer Haut, unsichere Blicke, schüchterne Gesten. Heute gehört Lemons zu den Protagonisten der LGBTQ-Bewegung in New York.
Schon dringt Lärm herüber vom nächsten Raum: Unter dem Titel „Glittermania“ sitzen an einem riesigen Tisch drei Dutzend plaudernde Mädchen und Frauen und basteln sich auf einer Postkarte mit Folie, Kleber, Pailletten, Perlen, Strass ein Souvenir. Eine Siebenjährige kehrt mit ihrem Werk noch einmal in die Ausstellung zurück und lässt sich damit vor dem Video des australischen Duos „The Huxley’s“ fotografieren. Die beiden treten im Glitzer-Bodysuit auf, tragen Glitzer-Perücken und tanzen. Die Kleine strahlt, das Maximum ist herausgeholt.
Doch es geht noch mehr: Ab 5. Juni präsentiert das türkisch-belgische Duo :mentalKlinik seine Installation „Puff Out“, bei der zwanzig Staubsauger zum Einsatz kommen, die fuchsiafarbenen Glitzer regelmäßig im Raum verteilen, um ihn wieder einzusaugen. Die Spuren dürften bis weit nach Ausstellungsende bleiben.