Die Encounters-Reihe der Berlinale: Das zweite Gesicht
Die Toten sind noch da, manchmal unscharf, manchmal schwarz-weiß, manchmal in Tiergestalt. Mitten im Leben sind wir vom Jenseits umfangen, mit rechten Dingen geht es ohnehin nicht zu.
Auffallend viele Encounters-Beiträge frönten in diesem Jahr einem magischen Realismus, als Grenzgänger zwischen Wirklichkeit, Phantasma und Mystizismus. „Dormir de olhos abertos/Sleep With Your Eyes Open“, schon der Titel des in der brasilianischen Küstenstadt Recife angesiedelten Films von Nele Wohlatz, ist programmatisch für die gesamte Sektion. Arbeitsmigranten aus China, die ihren Träumen nachgehen, bevölkern die mäandernde Erzählung, Gestrandete in einer Metropole von heute.
Oft sind es traumatische Erfahrungen, die Nachtmahre und Traumgesichte freisetzen: der Tod eines geliebten Menschen oder auch mysteriöse Morde wie im griechischen „Arcadia“ oder in „Through the Graves the Wind is Blowing“, der im kroatischen Split spielt.
Geisterstunden, Seelenwanderungen, opake Rätselbilder: In „The Fable“ schwingt sich ein Familienvater mit Vogelschwingen am Rücken hoch in die Lüfte im indischen Himalaja, mysteriöse Baumbrände sorgen für die Freilegung einer verschütteten Familiengeschichte. In „Cidade.Campo“ schlägt sich eine Bäuerin vom Land in der Stadt durch, während eine Städterin sich auf ihre ländliche Herkunft besinnt. Die urbane und die rurale Zone, sie schieben sich ineinander.
Wer blickt da noch durch? Nun ja, wer blickt selber schon durch in der eigenen Biografie? Oft changieren die Figuren und Erzählungen zwischen Doku und Fiction; der Hybridfilm ist ein Markenzeichen der von Carlo Chatrian 2020 eingeführten zweiten Wettbewerbsreihe. Ihr Profil will sich auch im fünften Jahrgang nicht recht erschließen, versammelt sie doch auch reichlich Solitäre und vor allem Produktionen, die ebenso gut im Panorama, im Forum oder im Wettbewerb aufgehoben wären. Denn Wagemutiges, individuelle Regie-Handschriften und eine Vorliebe fürs Driften ins Imaginäre finden sich dort genauso.
Dieses Jahr gehörten zu den Encounters-Solitären der eher schwache US-Indie „Matt and Mara“, in dem Uni-Dozentinnen und Intellektuelle nonstop parlieren wie einst in den Filmen Eric Rohmers, nur ohne deren Leichtigkeit. Und die aus dem Programm herausragenden dokumentarischen Arbeiten, Christine Argots autobiografisches Missbrauch-Doku-Drama „Une famille“ sowie Ruth Beckermanns Langzeitbeobachtung einer Wiener Grundschulklasse: „Favoriten“ lebt von Beckermanns großer Empathie zu den Migrantenkindern der Klasse und von der Wut auf ein Schulsystem, das die Kinder im Stich lässt – der Publikumsliebling in Encounters.
Bei den zwei übrigen Highlights der Reihe fällt auf, dass sie einen Echoraum zu Wettbewerbsfilmen bilden. Nicht als Beiboote, sondern als Komplentärerzählungen, so wie „Dormir de olhos abertos“ zur auch in „Black Tea“ verhandelten globalen Migrationsbewegung. So weitet „Ivo“, Eva Trobischs präzis-eindrückliche Nahaufnahme des Arbeitsalltags einer Palliativpflegerin, die Perspektive auf unseren Umgang mit sterbenden Angehörigen, wie er in Matthias Glasners „Sterben“ zu sehen ist. Und „The Great Yawn“ aus dem Iran führt eben jene starre männliche Religiosität ad absurdum, deren verheerende Folgen für die Frauen in der Tragikomödie „My Favourite Cake“ Thema sind.
Ein gläubiger Moslem träumt von einer Kiste mit Goldmünzen in einer Berghöhle und glaubt fest an seinen Traum. Um die Kiste zu bergen, heuert er einen Ungläubigen an, denn das Gold zu entwenden, ist nicht „halal“. Ein Hirngespinst, eine fixe Idee: Aliyar Rastis Roadmovie schildert eine absurde, lebensgefährliche Suche und entlarvt den Irrweg fanatischen Glaubens.
Folge deinen Träumen und misstraue ihnen zutiefst: Die Encounters-Filme 2024 lehren ihr Publikum, auch diesen Widerspruch auszuhalten.