Gentrifizierung und Globalisierung am Mittelmeer: Die Schattenseiten des spanischen Tourismus-Booms

Am Anfang sieht man einen langen Sandstrand, auf dem nur ein paar Menschen und Fischerboote zu erkennen sind. Rund 140 Seiten später reiht sich hier ein Hochhaus ans nächste, vom Strand und der Landschaft dahinter ist kaum noch etwas übriggeblieben. Was dazwischen mit dem kleinen Ort an der spanischen Mittelmeerküste und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern passiert ist, führt die Illustratorin Ana Penyas in ihrem querformatigen Buch „Sonnenseiten“ (aus dem Spanischen von Lea Hübner, bahoe books, 144 S., 19 €) vor Augen.

Penyas, geboren 1987, gehört seit einigen Jahren zu den wichtigsten neueren Stimmen der spanischen Comicszene, die ab dem 19. Oktober bei der Frankfurter Buchmesse einen besonders großen Auftritt bekommt: Dort ist Spanien Ehrengast, aus dem Anlass gibt es zahlreiche neue Veröffentlichungen, die in den vergangenen Monaten ins Deutsche übertragen wurden.

Die in Sevilla lebende Zeichnerin wirft einen dezidiert kritischen Blick auf jenen Wirtschaftszweig, den viele Deutsche in erster Linie mit ihrem Land verbinden dürften: Tourismus. Am Beispiel einer Familie, die in der Levante lebt, also an der Ostküste der Iberischen Halbinsel und ihrem Hinterland, entfaltet sie ein sozialkritisches Panorama, das die tiefgreifenden Folgen von Massentourismus, Neoliberalismus und Gentrifizierung vor Augen führt.

Wie alles anfing: Eine Szene aus „Sonnenseiten“.
Wie alles anfing: Eine Szene aus „Sonnenseiten“.
© bahoe

Penyas arbeitet in ihren Werken viel mit Collagen, und auch „Sonnenseiten“ ist ein Gemisch aus eigenen, teilweise leicht karikierenden Blei- und Buntstiftzeichnungen mit übermalten Fotoelementen, Ausschnitten aus Referenzmaterial wie Reiseführern sowie nachbearbeiteten Szenen aus Dokumentarfilmen.

Gute Geschäfte mit der Franco-Diktatur

Die hier geschilderten Umwälzungen beginnen in 1960er Jahren, als Spanien noch das Franco-Regime herrscht. In Zusammenarbeit mit ausländischen, oft deutschen Investoren entstehen die ersten Hotelburgen vor allem für sonnenhungrige Nordeuropäer, die es wenig kümmert, dass sie ihre Erholung in einer Diktatur suchen.

Das Titelbild des besprochenen Buches.
Das Titelbild des besprochenen Buches.
© bahoe

Auch Alfonso beginnt als Kellner in so einem Hotel, dem „Palace“, damals eines der besten Häuser am Strand. In mehreren Zeitsprüngen verfolgt Penyas, wie es Alfonso und seiner Familie in den folgenden Jahrzehnten ergeht, während die Strandkulisse langsam mit Hochhäusern zugestellt wird, Ackerflächen und historische Gebäude nach und nach verdrängt werden und der Alltag für alteingesessene Familien immer schwieriger wird, weil sie sich zunehmend fremd fühlen und oft auch nicht mehr genug Geld verdienen, um mit dem Wandel mitzuhalten.

Zwischen Werbung und Wirklichkeit

Das Spannungsverhältnis zwischen den Versprechungen der Projektentwickler, der Urlaubsindustrie und der Werbung einerseits und dem realen Alltag an Orten wie diesen andererseits vermittelt Penyas sehr anschaulich, indem sie immer wieder übermalte Fotos, die augenscheinlich aus Reklamebroschüren stammen, in ihre Zeichnungen einbaut und dadurch die zunehmende Entfremdung von Alfonsos Familie und die Kluft zwischen Werbung und Wirklichkeit visuell sehr überzeugend vermittelt.

Allerdings macht sie auch deutlich, dass die Veränderungen nicht von allen Familienmitgliedern gleich negativ empfunden werden. Während die Älteren zunehmend dem Verlust der alten Heimat nachtrauen, sehen die Jüngeren auch Chancen in der Entwicklung, was zu Spannungen zwischen den Generationen führt.

Im Laufe der nach Jahren geordneten Episoden, in denen abwechselnd unterschiedliche Mitglieder der Familie im Fokus stehen, zeigt sich, dass in „Sonnenseiten“ zwar in erster Linie die Geschichte eines spezifischen Ortes vermittelt wird, wie es sie auch von vielen anderen Touristenregionen am Mittelmeer zu erzählen gibt.

Manche Passagen lassen sich jedoch ohne große Mühen auch auf andere Länder übertragen. So könnte die schrittweise Gentrifizierung eines einstmals verrufenen Wohnviertels zum trendigen Treffpunkt für junge Menschen aus aller Welt mit Tätowierstudios, Galerien und hippen Restaurants ebenso gut in Berlin, London oder New York spielen.

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