Über jeden Zweifel erhaben: Ein Countertenor als Superstar
Singen müsste man können, oder tanzen, zumindest ein bisschen schauspielern… Jakub Józef Orliński, vergangenen Donnerstagabend in der Philharmonie zu erleben, kann das alles souverän – und noch einiges mehr. Der erst 32-Jährige ist als ausgemachter Star der Klassikszene nicht nur Countertenor, sondern auch Breakdancer, Ex-Model und Influencer mit 179.000 Instagram-Followern. Vielleicht lässt sich so der Titel seines aktuellen Konzertprogramms, „Beyond“, verstehen.
Das Cambridge Dictionary befragt, wird klar, dass dieses hippe englische Wort so ziemlich alles bedeuten kann: Es lässt jemanden im Sinne von „beyond excited“ überglücklich oder auch „beyond reasonable doubt“ zweifellos schuldig sein. Auch etwas in der Ferne, etwas danach oder außerhalb, oder etwas unfassbar Unglaubliches ist „beyond“. Was also bringt der Abend?
Nun, in gewisser zeitlicher Distanz entstanden – sämtlich im 17. Jahrhundert – ist die Musik, die Orliński darbot, von Monteverdi, Marini, Caccini, Frescobaldi, von Kerll, Strozzi, Cavalli, Pallavicino, Netti, Sartorio, Jarzębski und Moratelli. Bei aller Ferne befasst sie sich aber doch mit uns Vertrautem: der Liebe.
Multitalent Orlinksi lässt uns nun dem herzergreifend und fein nuanciert vor sich hin schmachtenden lyrischen Ich nicht nur andächtig zuhören, sondern bereitet die lose gefügte Lovestory auch noch szenisch auf. Mal streift er barfuß und mit Leuchtstab bewaffnet als Narkissos durch den Saal, mal intoniert er aus dem Halbdunkel Barbara Strozzis „Ich bin so lange auf die Suche gegangen“.
Oder aber er findet sich, in energischen Breakdance vertieft, im wirbelnden Paartanz mit seinem Umhang wieder, dann noch in ein Lockspiel mit dem Gitarristen Miguel Rinćon, der den Protagonisten mit virtuosen Gitarrenlicks betört. Am Ende erscheint Orliński dann, gebückt und verhüllt, in eine Greisin verwandelt, die in Giovanni Cesare Nettis „Je älter eine Frau wird“ verpasste Liebeschancen beweint.
Wer hier lediglich effekthaschende Show wittert, wird der Sache nicht gerecht. Orlińskis seidenweiche, doch verklärt schlank geführte Stimme braucht sich nicht hinter Szenerie und Entertainment zu verstecken. Mit „Il pomo d’oro“ wird der Pole überdies von einem der führenden Alte-Musik Ensembles getragen. Die „Goldenen Äpfel“ begleiten nicht nur, sondern streuen auch instrumentale Zwischenspiele ein. Immer wieder lösen sich Grüppchen, Duos oder Trios, aus dem 10-köpfigen Ensemble, die neben den rotierenden solistischen Beiträgen auch eine Art Instrumentenkarussell veranstalten, dabei die Vielfalt der Epoche erleben lassen – und das auf hohem künstlerischen Niveau.
Die mehrere Zugaben fordernden Begeisterungsstürme des Publikums finden selbst zu performativen Zügen, als etwa ein älterer Herr das „krankhaft-hysterische“ Gekreische der jungen Generation moniert. Ist das hier eine der masseneuphorischen Szenen aus Gérard Corbiaus Film „Farinelli“, über das fiktive Leben eines Kastraten-Solisten im 18. Jahrhundert? So oder so ist man „beyond thrilled“, wenn ein Countertenor zum Superstar wird.