Mit „Drecksackmentalität“ aus der Krise?: Weniger Kicken, mehr Kampf – das sind Nagelsmanns Lehren
Die deutschen Fußball-Nationalspieler verstehen ihren Trainer noch, sie vernehmen seine Botschaften, und sie folgen ihm. Das ist die positive Nachricht des Abends von Wien. Wahrscheinlich war es die einzige.
Es passierte zu Beginn der zweiten Halbzeit im Länderspiel gegen Österreich. Leroy Sané hatte gerade für eine Tätlichkeit im Affekt die Rote Karte gesehen, die Deutschen spielten also fortan in Unterzahl. Julian Nagelsmann, der Bundestrainer, machte sich zum wiederholten Male auf den Weg an die Seitenline. Er suchte den Blickkontakt zu seinem Torhüter Kevin Trapp, der sich gut 50 Meter entfernt von ihm befand, und wies mit seinen beiden ausgestreckten Armen auf den Boden.
Trapp schaute zunächst ein wenig irritiert, dann dämmerte es ihm, und bevor er den Abschlag ausführte, ließ er sich rücklings auf den Rasen fallen.
Das Spiel war unterbrochen, medizinische Kräfte eilten zur Scheinbehandlung des Torhüters auf den Rasen – und Nagelsmann nutzte die Pause, um Thomas Müller herbeizuzitieren und ihm neue taktische Anweisungen zu geben.
Auch nach dem Spiel, nach dem frustrierenden 0:2 gegen Österreich, hatte Nagelsmann noch einige Botschaften für seine Spieler parat. Ob sie genauso verfangen werden wie die Botschaft an Kevin Trapp während des Spiels, daran bestehen nach den jüngsten beiden Auftritten der Nationalmannschaft und den beiden Niederlagen gegen die Türkei und Österreich jedoch berechtigte Zweifel.
Sieben Monate vor der Europameisterschaft im eigenen Land ist die Nationalmannschaft weiterhin im Krisenmodus gefangen. Daran hat auch der Wechsel auf der Trainerposition von Hansi Flick zu Julian Nagelsmann nichts geändert. Im Gegenteil. Die Ernüchterung ist eher größer geworden, gerade weil sich das Fußballvolk vom jugendlichen Nagelsmann frischen Schwung erhofft hatte. Davon kann derzeit keine Rede sein.
Mit ein bisschen Kicken kommen wir da nicht raus.
Bundestrainer Julian Nagelsmann
Unterschiedlicher als am späten Dienstagabend im Ernst-Happel-Stadion konnten die Emotionen nicht sein. Auf der einen Seite feierten die Österreicher ihren Triumph über den großen Nachbarn wie einen Derbysieg. Immer neue Partykracher wurden über die Stadionlautsprecher eingespielt. Das Publikum grölte beseelt mit. Die Deutschen hingegen waren zu diesem Zeitpunkt längst bedröppelt vom Feld geschlichen.
Ralf Rangnick, der deutsche Teamchef der Österreicher, wurde im ORF gefragt, ob es die beste Leistung seiner Mannschaft in den anderthalb Jahren seiner Amtszeit gewesen sei. „Wahrscheinlich schon“, antwortete er. Dass die Deutschen ihr schlechtestes Spiel unter Nagelsmann abgeliefert hatten, das ließ sich sogar mit Gewissheit sagen.
Defensiv anfällig, offensiv harmlos: So präsentierten sich die Gäste in Wien. „Schlechter kann es gar nicht sein. Vielleicht ist das der einzig positive Aspekt“, erklärte Kapitän Ilkay Gündogan. Ralf Rangnick konnte sich an keine herausgespielte Chance der Deutschen erinnern. Und der Dortmunder Marcel Sabitzer, der das 1:0 für die Österreicher erzielt hatte, war sogar „ein bisschen überrascht“ von der Leistung des Gegners.
Leistung? Träge und schwerfällig wirkten die Gäste. „Wir hatten in der ersten Halbzeit eine Ballverlustrate, die absurd ist“, sagte Nagelsmann. Obwohl die Deutschen über mehr fußballerische Qualität verfügen als ihr Gegner, waren es die Österreicher, die das Bild des Spiels bestimmten: mit hoher Intensität, vielen zweiten Bällen und Stress für die deutsche Hintermannschaft, der sie auf Dauer nicht gewachsen war.
So kann es nicht weitergehen. Das war auch die Botschaft hinter den drei Botschaften des Bundestrainers an seine Mannschaft. Punkt eins: Die Mannschaft müsse es schaffen, das Gemeinschaftsgefühl, das sie im Training und im Umgang miteinander zeige, auch auf den Platz zu bringen. „Wir sind noch zu viele Einzelkämpfer, jeder hat mit sich zu tun“, sagte Nagelsmann.
Punkt zwei: Die Mannschaft müsse endlich rauskommen aus ihrer Opferrolle.
Völler fordert mehr Leidenschaft
Und drittens: Das Team benötige „eine Drecksackmentalität“. Von der Emotion und Mentalität zur Qualität: Das sei der Weg, nicht umgekehrt.
„Uns fehlen ein bisschen die deutschen Tugenden“, klagte Sportdirektor Rudi Völler. „Man kann Fehler machen, alles schön und gut, aber man muss zum richtigen Zeitpunkt Leidenschaft zeigen. Nur wenn jeder noch eine Schippe drauflegt, können wir bestehen.“
Denn immer noch verlässt sich die Mannschaft zu sehr auf ihre spielerischen Fähigkeiten. In Stresssituation gegen körperliche und emotionalisierte Teams wie die Türkei oder Österreich ist sie dann nicht in der Lage, sich den veränderten Herausforderungen anzupassen. Die Spieler müssten begreifen, „dass wir mit ein bisschen Kicken da nicht rauskommen“, sagte der Bundestrainer.
Mehr Arbeiter, weniger Künstler
Weniger Kicken, mehr Kampf: Für einen Schöngeist wie Nagelmann ist das eine schmerzhafte Erkenntnis. Am liebsten würde er ja all die wunderbaren Ballkünstler auf den Platz bringen, die ihm zur Verfügung stehen.
„Natürlich hast du als Trainer die Hoffnung: Wenn du fünf Zauberer hast, dann wuppen die dir das“, sagte er. „Normalerweise wuppen die das auch. Wenn wir in den letzten zwei Jahren mehr Spiele gewonnen hätten, dann würden die wuppen, dass mehr Wuppen gar nicht geht. Aber wir haben halt nicht so viele Spiele gewonnen.“
Aus diesem Teufelskreis muss Nagelsmann jetzt einen Ausgang finden. Möglicherweise, so deutete er an, werde er künftig auf den einen oder anderen Künstler verzichten und dafür den einen oder anderen Arbeiter mehr einbauen.
Jemanden wie Robert Andrich zum Beispiel, der gegen Österreich in der Schlussphase sein Länderspieldebüt feierte. Zuvor hatte der defensive Mittelfeldspieler von Bayer Leverkusen drei Spiele auf der Bank geschmort und sich wahrscheinlich schon gefragt, warum Nagelsmann ihn überhaupt eingeladen hatte.
Vier Monate hat der Bundestrainer jetzt Zeit, sich etwas zu überlegen, ehe die nächsten Länderspiele anstehen. Vier Monate, in denen er mit den Zweifeln der Öffentlichkeit konfrontiert sein wird. Vier Monate, in denen sich die Spieler seine Botschaften zu Herzen nehmen sollen. „Ich hoffe, es bringt was“, sagte Julian Nagelsmann. „Ich denke, ja.“