Die Berliner verdursten: Das Theaterkollektiv machina eX will sie retten
Was tut man nicht alles für die Wissenschaft? An diesem frühen Mittwochabend in Moabit stochern Freiwillige in mit Hundekot verminten Erdinseln am Straßenrand herum. Passanten bleiben stehen, rümpfen die Nase und schauen zu. Ein bisschen peinlich ist das schon, aber am Handy wartet eine Wissenschaftlerin auf wichtige Infos, die das Leben der Berliner drastisch verbessern könnten. Also weiter. Der einzige Baum, der aus dem Hundeklo wächst, muss abgeklopft werden (noch mehr Passanten schauen auf), anschließend gilt es eine Metallkonstruktion in die Erde zu hauen und ein Fläschchen Wasser darin auszuleeren. Die Auftraggeberin muss wissen, wie lange es dauert, bis der letzte Tropfen versickert ist.
Tatsächlich agieren die wackeren Helfer hier gar nicht im Sinne der Wissenschaft, jedenfalls nicht vordergründig, sondern im Sinne der Kunst. Sie sind Handelnde und Publikum zugleich, eine Kombination, die üblich ist für Inszenierungen des Theaterkollektivs machina eX. Die Hildesheimer Gruppe tut sich seit 2011 als Pionierin in der Gattung des Game-Theaters hervor, bei der die Zuschauer mit Spielmechanismen die Handlung vorantreiben. Das Kollektiv startete mit eher trashigen Science-Fiction-Geschichten, bald wandten sich die Künstler:innen ernsteren Themen zu: Einwanderungspolitik, Cyberkrieg, Pandemiebewältigung.
Volksentscheid für die Beregnung Berlins
Auch diesmal geht es um Leben und Tod. Im Berlin der Inszenierung ist der Grundwasserspiegel dramatisch gefallen, folglich herrscht ein Wassermangel, dem die Stadt mit sogenanntem „Durstmanagement“ begegnet. Um der Dauerrationierung ein Ende zu setzen, haben bei einem Volksentscheid 71,8 Prozent der wählenden Berliner für eine künstliche Beregnung gestimmt.
Noch an diesem Abend wollen die Verantwortlichen des Deutschen Regeninitiativprogramms (DRIP) den Entscheid umsetzen, doch noch ist nicht klar, wieviele Tage am Stück es regnen muss, um den Grundwasserspiegel wieder auf Vorkrisenniveau zu bringen. Hier kommt das Publikum ins Spiel, das mit einer letzten Datenerhebung für Klarheit sorgen soll.
Streng genommen beginnt die Inszenierung schon ein paar Tage vor dem Abend in Moabit, und zwar auf dem Messenger-Dienst Telegram. Hier müssen die Teilnehmer ihr Ticket einlösen und daraufhin mit einer Person namens Kai Tali Kontakt aufnehmen, die Texte und Sprachnachrichten mit Infos zum Projekt schickt. Wer mehrere Tickets gekauft hat, muss damit rechnen, seine Begleitungen erst am Ende des Abends wiederzutreffen, denn das spielende Publikum wird in Kleingruppen mit verschiedenen Startpunkten in der Stadt aufgeteilt.
Spieler können zu Spionen werden
Nicht alles läuft rund am Premierenabend. Vereinzelt fehlen Ausrüstungsgegenstände, Netzprobleme bei den Veranstaltern führen zu Verzögerungen in der Kommunikation. Beides wirkt der Theatererfahrung allerdings nicht entgegen, eher im Gegenteil. Es muss improvisiert werden und die immersive Qualität des Abends steigert sich noch, wenn Kai Talis Nachrichten nach längerer Wartezeit als eine von vielen aus dem Real Life eintrudelt.
Nach einer knappen halben Stunde im Alleingang nimmt die insgesamt gut zweistündige Inszenierung Fahrt auf, sobald Spieler zusammenarbeiten müssen. Manche von ihnen werden zu einer Aktivistengruppe namens „Schwamm-Initivative“ überlaufen, die statt der Beregnung 90 Prozent der Hauptstadt entsiegelt sehen will, um das Grundwasserproblem ein für allemal zu lösen, anstatt nach dem umstrittenen Gießkannenprinzip zu handeln. Wie die Sache ausgeht, hängt allein vom Publikum ab.
Generell liegt die besondere Kraft des Game-Theaters in der Kooperation. Indem gemeinsam mit Fremden eine Geschichte interpretiert und abstrakte Zusammenhänge konkret erfahrbar werden, erscheint plötzlich möglich, was der Autor und Dramaturg Björn Bicker 2015 als „Die Kunst der Teilhabe“ bezeichnete: Theater als „Labor“ für eine Gesellschaft der Vielfalt, die es zu organisieren gilt.
In dem tatsächlichen Labor, das die Besucher am Ende von „Wenn der Regen kommt“ bespielen, dominiert allerdings der Knobelspaß. So aufwändig und ernsthaft das Kollektiv im Vorhinein recherchiert und den Online-Auftritt von DRIP aufbereitet hat, so klamaukig geraten das Setting und so willkürlich das Gameplay in der fertigen Inszenierung, insbesondere im letzten Drittel. Der Bedeutungsproduktion der Erzählung steht die Interaktivität hier oft eher im Wege, als dass sie ihr zuträglich wäre. Trotzdem wird viel gelacht an diesem Abend und Fremden in die Augen geschaut, weil machina eX eine Komfortzone erschafft, in der sich so manches ausprobieren lässt. Auf zum nächsten Volksentscheid!