Leipziger Buchmesse: Verbeugungen vor großen Frauen
Es ist eine schöne, wohl auch bezeichnende Geschichte, die Dinçer Güçyeter an diesem Donnerstagnachmittag in der sonnendurchfluteten Glashalle des Leipziger Messegeländes erzählt. Gerade hat er erfahren, dass er für seinen Roman „Unser Deutschlandmärchen“ den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse verliehen bekommt, und nach einem knappen „Danke“ spricht er erstmal von einem besonderen Tag im vergangenen Jahr.
An diesem wurde ihm telefonisch mitgeteilt, dass er für seinen Gedichtband „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet werde. „Ich war allein an dem Tag, und dann sah ich unten meine Mutter im Garten. Ich bin zu ihr gelaufen und habe ihr von dem Preis erzählt. Woraufhin sie sagte: ,Zwei Jahre Pandemie und alle haben den Verstand verloren: Warum geben die dir einen Preis?’“
Aurora Venturinis „Die Cousinen“ gilt es zu entdecken
Güçyeter fügt in Richtung der Jury an, er wisse nicht, was seine Mutter nächste Woche wohl über sie sagen werde, und erklärt schließlich, da wirkt er schon etwas gefasster: „Mein Roman ist eine Verbeugung vor allen Frauen, die in Fabriken, Bordellen oder als Putzfrauen immer noch was bewegen wollen.“ Die Beziehung zu der Mutter des erzählenden Ichs in Güçyeters autofiktionalem Roman „Unser Deutschlandmärchen“ ist eine ambivalente, doch kann man davon ausgehen, dass der 1979 in Nettetal als Sohn türkischer Gastarbeiter geborene Lyriker und ELIF-Verleger sich damit nicht zuletzt vor seiner Mutter verbeugt hat.
Und das Leben von Hertha Gordon-Walcher
Genau das dürfte auch die Jury an diesem ersten Messetag in Leipzig getan haben, selbst wenn sie, wie ihre Vorsitzende Insa Wilke bei der Vorstellung ihrer Kolleginnen und Kollegen betonte, „kein Jurykörper, kein Ganzes“ gewesen sei: Sie hat sich mit ihren Preisentscheidungen verbeugt vor den Frauen in Dinçer Güçyeters Roman.
Vor der Frau, die Regina Scheer in ihrem Buch „Bittere Brunnen“ porträtiert: der 1894 in Königsberg geborenen und 1990 in Berlin verstorbenen Kommunistin Hertha Gordon-Walcher. Und vor der 2015 im Alter von 92 Jahren verstorbenen argentinischen Schriftstellerin Aurora Venturini, deren Roman „Die Cousinen“, der von einer Jugend in den vierziger Jahren im argentinischen La Plata erzählt, von Johanna Schwering ins Deutsche übersetzt wurde. Scheer bekam den Sachbuchpreis der Messe, Schwering den Preis in der Kategorie Übersetzung.
„Unser gemeinsamer Preis“
Dass im Grunde jedes der fünfzehn nominierten Bücher ein preiswürdiges gewesen ist, wollte dann zwar Dinçer Güçyeter demonstrieren, als er seine Konkurrentinnen und Konkurrenten auf die Bühne bat, Ulrike Draesner, Angela Steidele, Joshua Groß und Clemens J. Setz, und alle sich umarmten. „Unser gemeinsamer Preis“, rief Güçyeter.
Trotzdem dürfte es die Essayistin und Schriftstellerin Uljana Wolf ganz gut getroffen haben, als sie in einem Filmchen über die 2022er-Preisverleihung an sie, Tomer Gardi und Anne Weber für ihre Übersetzung von Cécile Waijsbrods Buch „Nevermore“ sagte: „Für mich war das irgendwie eine Gesamtkonzeption. Die hatten damit was im Sinn. Das Thema Mehrsprachigkeit und Übersetzen, vielleicht mal die Spielregeln ändern, das ist in der Jury-Entscheidung sehr stark zu erkennen.“
Wie ein in sich stimmiges Konzept wirkt es auch dieses Mal. Statt der Mehrsprachigkeit sind es in diesem Jahr Frauen, die entdeckt wuden, deren Lebensleistungen gewürdigt, denen zu verdienten Ruhm verholfen werden soll. Dinçer Güçyeter, Regina Scheer und Johanna Schwering stehen dabei vor allem helfend zur Seite, ohne dass das ihr jeweiliges Können als Schriftsteller, Sachbuchautorin und Übersetzerin schmälern würde. Ob dieser neue konzeptionelle Zugang den Preis der Leipziger Buchmesse größer, glamouröser macht, sei dahingestellt. Er dürfte jedoch sicher die Welt der Literatur bereichern