China droht

Bloß ein Gerücht war es, womöglich von einem Troll in Peking gestreut: 90 000 Objekte des Nationalen Palastmuseums in Taipeh würden wegen der militärischen Bedrohung durch China nach Japan und in die USA evakuiert werden. Das wäre nach 1933, 1937 und 1948/49 die vierte Flucht der vermutlich weltweit wichtigsten Sammlung chinesischer Kunst. Sofort dementierte die Direktion. Es gebe andere Schutzmaßnahmen für die 700 000 Objekte.

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1964, zum 100. Geburtstag von Sun Yatsen, des Vaters der Republik China, wurde das Museum in Taiwan eröffnet, in Konkurrenz zu Peking. Zum Verdruss Pekings herrscht die Meinung vor, der beste Teil der kaiserlichen Sammlung befände sich in Taipeh. Schon bei der Planung sorgte man vor. Das Gebäude wurde in einem Außenbezirk Taipehs in einen Berg hinein gebaut. Auch ein spezieller Schutzbunker war vorgesehen. Der Architekt nahm das gigantische Grabmal des Sun Yatsen in Nanjing zum Vorbild, das 1929 eröffnet wurde. Welches wiederum von den Formen des benachbarten, 1398 für den ersten Ming-Kaiser errichteten Mausoleums beeinflusst ist.

Beginn in der Han-Zeit

Die Geschichte kaiserlicher Sammlungen geht zurück bis in die Han-Zeit, die 220 endete. Beim Übergang von einer zur nächsten Dynastie war es wichtig, die Kunstsammlung in Besitz zu bringen, damit das Mandat des Himmels gesichert war. Ein manischer Sammler war der Qianlong-Kaiser. Er lebte von 1711 bis 1799. Seine Sammlung bildet heute in Peking wie in Taiwan den Grundstock der Museen. Der Besitz auch nur von Teilen der ehemals kaiserlichen Sammlung bedeutete Herrschaftslegitimation für Chiang Kaishek auf Taiwan. Das galt auch für seinen Feind Mao Tsetung in Peking.

Mehrfach wurde die Sammlung des Qianlong-Kaisers in einem zu wenig erforschten Ausmaß geplündert, bestohlen oder teilweise zerstört. Erstmals 1860, im 2. Opiumkrieg. Franzosen und Engländer berieten damals, ob sie zur Strafe die Verbotene Stadt oder den prächtigen kaiserlichen Garten Yuanmingyuan niederbrennen sollten. Die Franzosen waren gegen beide Vorschläge. Lord Elgin, Sohn jenes Lords, der durch die Mitnahme der Elgin Marbles aus Athen zu zweifelhaftem Ruhm gelangte, entschied, den Garten zu zerstören. Zuvor aber plünderten Offiziere und Soldaten beider Heere dessen Schatzhäuser mehrfach. Zehntausende kostbarste Objekte gerieten nach Frankreich und England. In Schloss Fontainebleau richtete Kaiserin Eugénie das Musée Chinoise für geschenktes Raubgut ein. Man kann es aktuell besuchen. England nahm Plündergut in die großen Museen wie auch die royale Sammlung auf.

Plünderung auf Plünderung

Die zweite große Plünderung der kaiserlichen Sammlung ereignete sich im Jahr 1900. Acht alliierte Nationen: Deutschland, England, Frankreich, Italien, Japan, Österreich, Russland, USA entsandten Truppen nach Peking, um das von den sogenannten Boxern und der chinesischen Armee belagerte Botschaftsquartier zu entsetzen. Nach dem Sieg wurde Peking in acht Sektoren geteilt. In allen gab es Plünderungen durch alliierte Soldaten. Hunderttausende wertvollste Objekte gelangten in ihre Hände – und in der Folge in Museen und Sammlungen auf der ganzen Welt. Auch in den Staatlichen Museen zu Berlin finden sich damals geplünderte Objekte, die man jetzt (endlich) auf Provenienz untersuchen will. Eine dritte Diebstahlserie fand nach 1911 durch den (letzten) Kaiser Puyi und seine Eunuchen statt. Ihm war nach der Abdankung im Februar 1912 erlaubt worden, in der Verbotenen Stadt zu leben, inmitten der Sammlung. Eunuchen stahlen und verkauften auf dem Schwarzmarkt. Pu Yi verschenkte oder verpfändete hunderte wertvolle Werke. Oder verbrachte sie vorsorglich in die japanische Konzession von Tianjin. Erst 1924 wagte es die Republik, den abgedankten Herrscher aus dem Palast zu vertreiben. Die kaiserliche Sammlung wurde endlich zum Staatsbesitz erklärt.

Eine vierte Diebstahlsserie ist kaum erforscht. Ab 1966, während der Kulturrevolution attackierten radikalisierte Jugendliche die Verbotene Stadt. Rote Garden benannten sie um in „Palast der Tränen und des Blutes“. An ihren Mauern fanden sich große Poster mit der Aufforderung „Brennt die Verbotene Stadt nieder“. Mao hatte sie aufgehetzt, alles „Alte“ zu zerstören. Es kam zu erheblichen Schäden. Die Regierung stationierte ein Bataillon Soldaten im Museum, um die Kunstwerke zu schützen. Erst 1972 wurde es wieder geöffnet – aus Anlass des Besuches von US-Präsident Richard Nixon.

Palastmuseum Peking

Am 10. Oktober 1925 gründete die Regierung das Palastmuseum Peking in der Verbotenen Stadt in einem feierlichen Akt – nach dem Vorbild der Museumsinsel in Berlin und des Louvre in Paris. Cai Yuanpei, einst Student in Leipzig, Kant-Übersetzer und erster Erziehungsminister der Republik, hatte dies bereits 1912 empfohlen. Die Republik suchte nach symbolischen Formen, ein Nationalmuseum gehörte dazu. Bis 1912 gab es nicht ein einziges staatliches Museum in China. Mit der Eröffnung 1925 feierte die junge Republik den zehnten Jahrestag jenes Putsches im heutigen Wuhan, der den Sturz der Qing-Dynastie einleitete. Junge Offiziere und Soldaten hatten rebelliert. In wenigen Wochen schlossen sich die meisten Provinzen deren Revolution an. Am 1. Januar 1912 konnte die Republik China proklamiert werden. Der 10. Oktober ist heute noch Feiertag in Taiwan.

Schon 1933 musste das Museum erstmals vor der Bedrohung durch die japanische Armee aus Peking in den Süden fliehen, mit 19 000 Kisten nach Shanghai und Nanjing. Dann erneut 1937, Japan war dabei, in den Süden des Landes vorzudringen, auf abenteuerlichen Routen in die Provinz Sichuan. Dort blieben die Schätze unter der Obhut der Kuomintang-Regierung, die dort Zuflucht gefunden hatte. Erst im Herbst 1945, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, konnte die kostbare Fracht zurückgeführt werden. Als dann 1948/49 Chiang aus seiner Hauptstadt Nanjing vor Maos Roter Armee nach Taiwan fliehen musste, befanden sich 3000 Kisten mit den wertvollsten Stücken der Sammlung in seinem Gepäck.

Vier Palastmuseen

Vier Palastmuseen gibt es heute. Peking hat mit der Verbotenen Stadt ein unübertreffliches sogenanntes Ausstellungshaus. 1,7 Millionen Objekte werden dort bewahrt. Vor der Pandemie kamen pro Jahr 20 Millionen Besucher. Die vor wenigen Wochen eröffnete Filiale in Hongkong finanzierte der Jockeyclub mit 450 Millionen US-Dollar. 1000 Objekte werden dort in stetigen Wechsel gezeigt. Nach außen schließt sich das neue Museum eher ab. Mit dem im Dezember eröffneten, von heftiger Zensur bedrohten „M+ Museum für visuelle Kunst“, dem Laptop von Herzog/de Meuron, kann es ästhetisch kaum konkurrieren. Eine gelbschimmernde Außenhaut soll an die goldgelben Dachziegel erinnern, deren Nutzung einst allein dem Kaiser vorbehalten war. Der Hongkonger Architekt Rocco, insgeheim und ohne Ausschreibung ausgewählt, sieht sich in der Tradition des klassischen Chinas.

Die ersten freien Präsidentenwahlen auf Taiwan fanden 1996 statt, nach Jahren des Kriegsrechts (1949-1987) und des Einparteienregimes der Kuomintang. Als 2000 erstmals die oppositionelle, 1986 gegründete Democratic Progressive Party (DPP) die Präsidentenwahl gewann, änderte sich die Sicht auf das Palastmuseum. Taiwan ist stolz auf die Sammlung. Aber man wollte nicht nur auf China, sondern auch auf Asien blicken.

Die DPP initiierte New-Generation-Projekte. Eines davon: ein Palastmuseum im Süden des Landes. Internationale Architekten wurden zur Teilnahme am Wettbewerb aufgefordert. Beschlossen Anfang 2000, wurde es schließlich nach Plänen des taiwanischen Architekten Kris Yao realisiert, aber erst 2015 eröffnet. Wie hingetuschte Malerei erscheint es. Ein lichtdurchflutetes Gebäude, das sich zur Welt öffnet. So wie die Bewohner der Inseldemokratie sich sehen: 89 Prozent wollen keine Vereinigung mit Festland-China.