Die Hüllen fallen lassen
NochMall, Auguste-Viktoria-Allee 99, bis 9. April, Mo-Sa 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr. Infos unter: www.nochmall.de
Berlins Recycling-Mekka liegt in Reinickendorf. Eine Kunstausstellung vermutet man hier eher nicht. An einer Einfahrt, die zum örtlichen Baumarkt zu führen scheint, glaubt man im ersten Moment, sich bei der Adresse geirrt zu haben und blickt auf dem Parkplatz herum, ob nicht doch irgendwo ein Schild den richtigen Weg weist. Weil dem nicht so ist, übertritt man schließlich zögernd die Schwelle eines großes Gebäudes. Drinnen läuft man an braunen Polstersesseln, Porzellangeschirr und Tennisschlägern vorbei. Zwischen alten Holzstühlen und CD-Regalen taucht dann unvermittelt etwas auf, das nicht recht in diese Welt aus Gebrauchtwaren passen will: In einem weißen Holzschrank tanzt eine Plastiktüte, von Ventilatoren in der Luft gehalten.
Der fliegende Beutel ist nicht zufällig dorthingeraten. In der „NochMall“, so der Name des Reinickendorfer Gebrauchtwarenkaufhauses, hat sich inmitten der Auslagen die Ausstellung „Die letzte Tüte“ angesiedelt. Betrieben von den Berliner Stadtreinigungsbetrieben BSR, werden auf 2000 Quadratmetern Dinge angeboten, die vom Sperrmüll kommen und neu aufgearbeitet wurden. Berlins Beitrag zur Ressourcenschonung. Von Möbeln über Elektrogeräte bis Spielzeug und Bücher lässt sich alles finden. Darüber hinaus bietet die „NochMall“ Veranstaltungen zum Thema Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft an, wie kürzlich eine Modenschau mit nachhaltiger Kleidung.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Die Ausstellung „Die letzte Tüte“ war pandemiebedingt von 2021 verschoben worden, dem letzten Jahr, in dem leichte Plastiktüten in deutschen Supermärkten noch angeboten werden durften. Die Plastiktüte, Alltagsobjekt, in den sechziger Jahren Sinnbild für Modernität, teils von Künstlern gestaltet oder am geradlinigen Bauhaus-Stil orientiert, ist zum Symbol für Ressourcenverschwendung geworden. Bis zum Verbot wurden jährlich zwei Milliarden Plastiktüten in Deutschland verbraucht, wobei die Nutzungsdauer eines Exemplars bei nur 25 Minuten liegt. Die Wegwerftüte ist Mitverursacherin der weltweiten Umweltverschmutzung. 86 Millionen Tonnen Plastikmüll befinden sich schätzungsweise im Meer und richten massiven Schaden an, weil sich Kunststoff nicht abbaut.
Zwischen Kunst und hippem Alltagsobjekt
Seit 2022 sind leichte Plastiktüten in Deutschland verboten und es hat bereits etliche Ausstellungen zum Ende der Tüte gegeben, meist als Hommage ans Alltagsdesign. Nun haben Christl Mudrak und Alex Müller 30 nationale und internationale Künstler:innen eingeladen, ihre persönliche „letzte Tüte“ mitzubringen, wie Kuratorin Christl Mudrak berichtet. Im Fokus steht das Thema Wiederverwertung und Recycling sagt die Raumkünstlerin, die sich schon länger für Projekte an der Schnittstelle zwischen Kunst und Umwelt engagiert.
Die schwebende Tüte im Schrank ist Mudraks Werk. „Eigentlich finde ich es schade, dass wir keine Tüten mehr haben“, sagt sie. Natürlich sei die Plastikverschmutzung desaströs, aber dass es die Schönheit einer im Wind wirbelnden Tüte künftig nicht mehr geben werde, sei trotzdem traurig. Den schmalen Holzschrank, den die Künstlerin seit Studientagen besitzt, hat sie einem letzten Veredelungsprozess unterworfen. Mithilfe eines Ventilators präserviert er den melancholischen Plastiktüten-Schönheitsmoment. Unweigerlich denkt man dabei an Sam Mendes Kultfilm „American Beauty“, in dem eine tanzende Tüte dem hobbyfilmenden Drogendealer Ricky (Wes Bentley) Tränen in die Augen treibt.
Die Kunstwerke sind inmitten des Kaufhaus-Sortiments platziert und umkreisen die Themen Umweltverschmutzung und Nachhaltigkeit auf unterschiedliche Weise. An verschiedenen Stellen im Kaufhaus, fast unmerklich unter die Waren gemischt, sind die „Taschen“ von Monika Jarecka: Die aus Polen stammende Künstlerin hat ehemalige Luxusmarkentaschen gesammelt, die normalerweise auf dem Heimweg vom Einkauf als zusätzliches Werbeutensil fungieren und anschließend in der Abstellkammer verstauben.
Jarecka hat mit leuchtenden Farben jeweils die Markenlogos übersprüht, sodass die Taschen wiederverwendet werden können, ohne den großen Konzernen noch länger zu dienen. Mit dieser bunten Camouflage changieren die ehemaligen Markenbotschafter zwischen Kunst und hippem Alltagsobjekt. An dieser Schnittstelle bewegt sich inzwischen auch die blau-weiße Tüte von Aldi-Nord. Das vom Künstler Günter Fruhtrunk entwickelte Streifenmotiv wurde in Kombination mit der Tüte Kult.
Haltbar, strapazierfähig, wasserfest
Der Schauspieler Lars Eidinger hat sich mit seiner selbstdesignten Edelvariante ein bisschen in die Nesseln gesetzt. 2023 würde der 1982 verstorbene Frühtrunk 100 Jahre alt. Das Bonner Kunstmuseum und das Lenbachhaus München planen Ausstellungen und dann wird seine konkrete Kunst aus Balken und Linien sicher auch in Form der Tüte nochmal geadelt.
An die Unendlichkeit – oder auch die Unzersetzbarkeit von Kunststoff – erinnert Markus Wüstes in Marmor gemeißelte Tüte. Doch der Berliner Bildhauer, der an der Universität der Künste studiert hat, möchte auch den hohen Wert des Kunststoffs betonen. Man sollte nicht vergessen: Im ausgehenden 20. Jahrhundert hatten Plastiktüten längst nicht den schlechten Ruf von heute. Plastik hat als Material viele gute Eigenschaften: Es ist haltbar, strapazierfähig, wasserfest. Diese Vorteile haben allerdings katastrophale Folgen für die Umwelt.
Der Bildhauer Thomas Rentmeister, der unter anderem für seine Kühlschrankarbeiten bekannt geworden ist, hat für die Ausstellung eine Tüte mit Sonnenblumenaufdruck kreiert, die zur Hälfte in einem Rahmen steckt, während die anderen Hälfte in Fransen herunterhängt. Rentmeisters „Sunset“ ist eine Anspielung auf die berühmte Arbeit „Love is in the Bin“ des britischen Streetart-Künstlers Banksy. Bei einer Sothebys-Auktion 2018 schredderte sich Banksys Bild „Mädchen mit Ballon“ zur Hälfte selbst, in dem Moment, in dem der Hammer fiel.
Banksy wollte damit seiner Verachtung für den kapitalistischen Kunstbetrieb Ausdruck verleihen. Was nur bedingt gelang, da das Werk dadurch erst recht zur Ikone wurde und danach Seite an Seite mit Rembrandt und Duchamp im Museum ausgestellt wurde. Wer weiß wohin Rentmeisters Sonnengruß es noch schafft, nach dem er das Kaufhaus verlassen hat.