Ein Großer ist von uns gegangen
Wahrscheinlich war der „Kicker“ schuld. Als Grundschüler war das Fußballmagazin noch vor jeder Fibel die wichtigste Lektüre. Jeden Donnerstag- und am Montagmorgen führte mein Schulweg am Kiosk vorbei. Nach „meiner“ ersten Fußballweltmeisterschaft 1974 gab es da ein attraktives Punkte-Sammelangebot – für einen Starschnitt von Jürgen Grabowski. Den hatte ich bald an der Wand. Wasserfest und imprägniert mit Lackschicht, damit er besser halten konnte.
Jürgen Grabowski war einfach faszinierend unaufgeregt, ein Künstler am Ball. Der Mann mit dem Oberlippenbart spielte zuverlässig stark und mit dem Understatement eines späteren Versicherungsvertreters. Er ist eher nicht der erste Spieler, der den Menschen in den Sinn kommt, wenn sie an die große Mannschaft des Heimturniers von 1974 denken, obwohl da Grabowski auch das Siegtor zum Titel von Gerd Müller mit eingeleitet hat.
Bei Eintracht Frankfurt war Grabowski der große Spielmacher. Im WM-Jahr wurde er mit seinem Klub auch Pokalsieger, das 3:1 gegen den Hamburger SV ist mir noch in lebhafter Erinnerung – zumal das Finale im August, also nach der WM, ausgetragen wurde. Eintracht war in den Siebzigern groß, der Glanz der Grabowski-Ära ist heute noch präsent im einstigen Waldstadion – vor den Spielen wird stets ein Song der Frankfurter Band Tankard gespielt: „Wir haben die Eintracht im Endspiel gesehn, mit dem Jürgen, mit dem Jürgen. Sie spielte so gut und sie spielte so schön mit dem Jürgen Grabowski! Schwarz Weiß wie Schnee, das ist die SGE.“
Große Erfolge mit Eintracht Frankfurt
Grabowski hatte große Erfolge mit der Eintracht – zwei Pokalsiege und der Uefa-Cup im Jahr 1980. Wobei er im Finale nicht mehr spielte, eine Fußverletzung hatte seine Karriere beendet. Den Nationalspieler Grabowski gab es im Jahr 1980 schon lange nicht mehr. Sein 30. Geburtstag war auch der Tag des WM-Finales von München, danach trat er schnell zurück – neben Wolfgang Overath, dem inzwischen verstorbenen Gerd Müller und Paul Breitner, der später zurückkam. Sie hatten es nicht so mit Helmut Schön.
Der Bundestrainer hat vor der WM 1978 versucht, Jürgen Grabowski zu einem Comeback zu überreden. Der gebürtige Wiesbadener überlegte lange – und sagte dann ab.
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In der Nationalmannschaft agierte Grabowski meist als Rechtsaußen. Er war schon 1966 im WM-Kader, spielte aber nicht, was sich 1970 änderte. Da wurde er zum besten Einwechselspieler des Turniers. Bei der EM 1972 war er im deutschen Kader, kam aber im Finale nicht zum Einsatz. Auch die WM 1974 lief weniger gut an für Grabowski, nach dem 0:1 im letzten Gruppenspiel gegen die DDR fiel er in Ungnade.
Im Spiel gegen Schweden in der zweiten Runde gelang ihm dann – erst wenige Minuten auf dem Platz – aber der Treffer zum vorentscheidenen 3:2. Deutschland war nach einem 0:1 zur Pause zurückgekommen und siegte 4:2. So wie sich das Team nach Grabowskis Einwechslung aufstellte, spielte es auch im Endspiel gegen die Niederlande. „Diesem Spiel verdanke ich alles“, hat Jürgen Grabowski später gesagt.
Eine Funktionärskarriere war nichts für ihn
Nach 517 Spielen und 151 Toren für seine Eintracht trat Grabowski in seinem Klub – anders als sein Mitweltmeister von 1974, Bernd Hölzenbein – vor allem als Stadionbesucher in Erscheinung. Seine einwöchige Karriere als Interimstrainer hatte er im Dezember1977 (noch als Spieler) hinter sich gebracht. Er betrieb eine Versicherungsagentur. Eine Funktionärskarriere war nichts für ihn.
Nach Jürgen Grabowski gab es übrigens beim „Kicker“ einen Starschnitt von Rainer Bonhof, den habe ich nicht mehr zusammenbekommen. Den lebensgroßen imprägnierten Grabowski habe ich nicht mehr. Nachdem ein Held der Kindheit gegangen ist, spüre ich aber stille Trauer: Im Alter von 77 Jahren ist Jürgen Grabowski am Donnerstag gestorben.